Nachts
Sorgen um Dave. Ich war heute morgen als erstes dort, aber er war nicht da. Ich fürchte, er könnte unterwegs sein und trinken.«
»Das ist doch nichts Neues, oder?« fragte er, während er an ihrer Seite die Treppe hinunterging. Ihr Datsun parkte hinter Sams eigenem Wagen am Bordstein.
Sie sah ihn an. Es war ein kurzer Blick, aber ein komplexer: Zorn, Resignation, Mitleid. Sam dachte bei sich, wenn man diesen Blick interpretierte, sagte er: Sie wissen nicht, wovon Sie sprechen, aber das ist nicht Ihre Schuld.
»Diesmal war Dave seit fast einem Jahr trocken, aber sein allgemeiner Gesundheitszustand ist nicht gut. Sie haben recht, rückfällig zu werden ist bei ihm nichts Neues, aber ein weiterer Rückfall könnte sein Tod sein.«
»Und das wäre meine Schuld.« Jetzt war s ein Lachen endgültig versiegt.
Sie sah ihn ein wenig überrascht an. »Nein«, sagte sie. »Niemand wäre schuld aber das soll nicht heißen, ich möchte, daß es so kommt. Oder so kommen muß. Los doch. Wir nehmen meinen Wagen. Wir können uns unterwegs unterhalten.«
5
»Erzählen Sie mir, was Ihnen zugestoßen ist«, sagte sie auf dem
Weg zum Stadtrand. »Erzählen Sie mir alles. Es ist nicht nur Ihr Haar, Sam; Sie sehen zehn Jahre älter aus.«
»Papperlapapp«, sagte Sam. Er hatte mehr als sein Haar in Naomis Taschenspiegel gesehen; er hatte einen besseren Blick auf sich selbst bekommen, als ihm lieb war. »Eher zwanzig, und mir kommt es wie hundert vor.«
»Was ist passiert? Was war los?«
Sam machte den Mund auf, um es ihr zu sagen, überlegte dann, wie es sich anhören mußte, und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Noch nicht. Vorher werden Sie mir etwas sagen. Sie werden mir von Ardelia Lortz erzählen. Neulich haben Sie gedacht, ich mache Witze. Damals war mir das nicht klar, aber heute. Also erzählen Sie mir von ihr. Sagen Sie mir, wer sie war und was sie gemacht hat.«
Naomi fuhr hinter dem alten Feuerwehrhaus aus Granit von Junction City an den Straßenrand und sah Sam an. Unter dem leichten Makeup war ihre Haut blaß, die Augen aufgerissen. »Das haben Sie nicht? Sam, wollen Sie mir sagen, Sie haben keine Witze gemacht?«
»Ganz recht.«
»Aber, Sam « Sie verstummte und schien einen Augenblick nicht zu wissen, wie sie fortfahren sollte. Schließlich sprach sie ganz leise weiter, wie zu einem Kind, das nicht we iß, daß es etwas Unrechtes getan hat. »Aber Sam, Ardelia Lortz ist tot. Sie ist seit dreißig Jahren tot.«
»Ich weiß, daß sie tot ist. Ich meine, jetzt weiß ich es. Ich will den Rest wissen.«
»Sam, wen immer Sie gesehen zu haben glauben «
»Ich weiß, wen ich gesehen habe.«
»Sagen Sie mir, wie Sie darauf kommen «
»Zuerst reden Sie.«
Sie legte den Gang wieder ein, sah in den Rückspiegel und fuhr Richtung Angle Street. »Ich weiß nicht besonders viel«, sagte sie.
»Ich war erst fünf, als sie gestorben ist. Das meiste weiß ich aus Klatsch und Tratsch, den ich mitgehört habe. Sie gehörte der First Baptist Church von Proverbia an jedenfalls ging sie dorthin , aber meine Mutter spricht nicht über sie. Auch keines der älteren Gemeindemitglieder. Sie tun so, als hätte sie nie existiert.«
Sam nickte. »Genau so ist Mr. Price in seinem Artikel über die Bibliothek verfahren, den er geschrieben hat. Den ich gelesen habe, als Sie mir die Hand auf die Schulter legten und mich um zwölf weitere Jahre meines Lebens gebracht haben. Es erklärt auch, warum Ihre Mutter so wütend auf mich war, als ich Samstagabend ihren Namen erwähnte.«
Naomi sah ihn verblüfft an. »Darum haben Sie angerufen?«
Sam nickte.
»O Sam dann stehen Sie jetzt auf Mutters schwarzer Liste.«
»Ach, da stand ich vorher schon; ich könnte mir nur denken, daß sie mich weiter hochgesetzt hat.« Sam lachte, dann zuckte er zusammen. Sein Bauch tat immer noch von dem Lachkrampf auf der Treppe der Zeitungsredaktion weh, aber er war trotzdem froh, daß er ihn gehabt hatte. Vor einer Stunde hätte er nicht geglaubt, daß er seine Ruhe je wiederfinden würde. Vor einer Stunde war er sogar der Meinung gewesen, er und seine innere Ruhe würden den Rest seines Lebens getrennte Wege gehen. »Nur weiter, Naomi.«
»Das meiste habe ich bei den Zusammenkünften aufgeschnappt, die die Leute von den AA als >echte Zusammenkünfte< bezeichnen«, sagte sie. »Damit ist gemeint, wenn die Leute vorher und nachher zusammenstehen und Kaffee trinken und sich über alles unter der Sonne unterhalten.«
Er sah sie neugierig an.
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