Nachtsafari (German Edition)
durch Europa und England gebummelt. Kaum war sie zurückgekehrt, wurde sie von entfernten Verwandten nach Kalifornien eingeladen.
Dort hatte sie sich erst in San Diego und dann in Tony verliebt, der sich in einer Endlosschleife Wiederholungen von Easy Rider reinzog und irgendwie aus der Zeit gefallen war. Ständig angenehm bekifft, wanderten sie ziellos umher. Im Grand Canyon zog sie sich den schlimmsten Muskelkater ihres Lebens und Blasen von Pflaumengröße an den Fersen zu, die aber auf den wochenlangen Greyhound-Touren mit Tony kreuz und quer durch das riesige Land wieder heilten. Irgendwann landeten sie in Mexiko. Tony begann harte Drogen zu nehmen, bestahl sie und versuchte schließlich, sie auf den Strich zu schicken, weil er Geld für seine Sucht brauchte. Angewidert floh sie in die adrenalingeladene Atmosphäre New Yorks, um den Schmutz abzuschütteln. Und um Tony ein für alle Mal zu vergessen.
Ernüchtert und mit einem gemeinen Tinnitus, der in direkten Zusammenhang mit der Lautstärke in den dortigen Discos zu bringen war, kehrte sie endlich ins vergleichsweise idyllische Hamburg zurück. Ihre Abenteuerlust war vorerst gestillt.
Der Tinnitus verschwand irgendwann, kehrte nur bei großem Stress für kurze Zeit zurück. Sie studierte Literatur und Kunstgeschichte, weil das ihre Leidenschaft war, und Pharmazie, weil ihr Vater von ihr erwartete, dass sie seine Apotheke übernehmen würde. Ihre Zukunft war gesichert, ihr Leben sorglos und bis zu diesem Zeitpunkt mehr als angenehm gewesen.
Kurz vor ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag ging ihr Vater durch riskante Immobiliengeschäfte Knall auf Fall pleite. Mit keiner Regung hatte er sich anmerken lassen, dass ihm das Wasser bis zum Hals stand. Innerhalb kürzester Zeit verlor er alles – die Apotheke, das große Haus im Alstertal und auch das Ferienhaus auf Sylt. Eine nicht aufzuhaltende Lawine überrollte die Familie und begrub sie unter sich.
Als ihre Mutter herausfand, dass er außer seiner Lebensversicherung alles verpfändet hatte, einschließlich ihrer Altersvorsorge, machte sie ihm in der Küche eine ungeheure Szene. Als der Streit tobte, hatte sie im Wohnzimmer gesessen und sich unter dem Worthagel gekrümmt, als würde sie geschlagen. Jedes Wort, das ihre heile Welt wie eine Abrissbirne traf, hatte sie mitbekommen. Starr vor Schreck, fast taub vom wieder aufgeflammten Tinnitus, konnte sie nur hilflos zuhören.
Irgendwann dröhnten die schweren Tritte ihres Vaters auf der Holztreppe, als er ins Schlafzimmer rannte. Ihre Mutter keifte ihm hinterher, benutzte dabei Worte wie Hammerschläge. Mit beiden Händen hatte Silke sich die Ohren zugehalten, aber es dämpfte den Schrecken nur wenig. Dann hatte die Schlafzimmer tür geknallt, und in die tonnenschwere Stille war ein Schuss durchs Haus gepeitscht. Ihre Mutter war ebenfalls nach oben gerannt, und Sekunden später hatte sie zu schreien begonnen.
Silke umklammerte das Lenkrad. Diese Schreie würde sie bis ans Ende ihres Lebens nicht vergessen, auch nicht, was danach geschah. Irgendwann kamen Polizei, Notarzt, Sanitäter. Eine Woche später war die Beerdigung, dann kamen die Gläubiger. Allen voran die Banken. Als sie abgezogen waren, stand die Familie vor dem absoluten Nichts. Sie reagierte auf den Schock, indem sie sich seelisch abschottete. Sie konnte nichts fühlen, funktionierte rational, aber automatisch. Ihre Freunde kommentierten ihre offensichtliche Nervenstärke. Später sollte sie sich an diese Zeit immer nur bruchstückhaft erinnern.
Ihre Mutter musste eine Stelle an der örtlichen Supermarkt kasse annehmen und starb jedes Mal fast vor Scham, wenn jemand aus ihrem früheren Leben in den Laden kam und sie erkannte. Sie wurde einfach nicht damit fertig, dass sie all ihre Statussymbole verloren hatte, keinen Mercedes mehr fuhr, sondern Fahrrad. Ein gebrauchtes Fahrrad. Weil sie nicht mehr mit ihren Golf spielenden Freunden mithalten konnte, zog sie sich von allen zu rück. Ihr Liebling, Silkes Bruder, wanderte nach Australien aus, und Silke musste ihr Studium abbrechen, um genug für ihren eigenen Unterhalt und einen Zuschuss für ihre Mutter zu verdienen.
Das war der Zeitpunkt, als sie herausfand, dass sie ein Kind von dem Mann erwartete, mit dem sie Schluss gemacht hatte. Wegen der Gesetzeslage in Deutschland flüchtete sie nach England, wo die Abtreibungspille bereits zur Verfügung stand, und tat, was sie tun musste. Angesichts ihrer finanziellen Lage wusste sie keinen anderen
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