Nachtsafari (German Edition)
aber es gelang ihr, sich loszureißen und Marcus in die Diele zu bugsieren. Dort zog Silke ihre High Heels aus und die Stiefel an, Marcus lehnte derweil nur mit leerem Blick an der Wand.
»Du bist so blau, dass du schon schielst«, sagte sie genervt. »Zieh deine Schuhe an.«
Ihre Schals lagen über ihr in der Garderobenablage, sie nahm sie herunter und warf ihm seinen zu, den er prompt verfehlte. Ihren wickelte sie sich fest um.
Marcus brummte etwas, während er sich nach Schal und Schuhen bückte. »Ich schiel überhaupt nicht«, protestierte er.
3
V or der Haustür schlug ihnen ein schneidend kalter Wind entgegen. Silke zog ihren Mantel fester am Hals zusammen, mühte sich, ihr langes Kleid so zu raffen, dass es nicht im Schneematsch schleifte.
»Fahr du, ich glaub, ich bin zu besoffen«, sagte Marcus, fummelte den Autoschlüssel hervor und ließ sich schwer auf den Beifahrersitz fallen.
»Ach, merkst du das auch schon?«, spottete sie und startete den Motor.
Fröhliches Gelächter lenkte ihren Blick auf den hell erleuchteten Eingang einer Bar, aus dem eine lärmende Menschenmenge hervorquoll. Offenbar war auch da gerade eine Silvesterfeier zu Ende gegangen. Nur noch ab und zu stieg eine Rakete in den dunklen Himmel.
Sie stellte den Scheibenwischer an und legte den Gang ein, streifte dabei Marcus mit einem Seitenblick. Die Lippen blutleer gepresst, die Augen bodenlose schwarze Löcher, saß er stumm neben ihr. Sie berührte seinen Oberarm. Seine Muskeln fühlten sich noch immer an, als wären sie aus Holz geschnitzt. Impulsiv wandte sie sich ab. Sie wollte es ihm nicht antun, dass sie zusah, wie er buchstäblich seelisch auseinanderfiel. Aber eine unscharfe Vorahnung, die wie ein kalter Nebel in ihr hochkroch, veranlasste sie, den Gang wieder herauszunehmen.
»Das mit der Mine war doch nicht alles, oder?«, fragte sie und war froh, dass ihre Stimme nichts von der inneren Unruhe verriet. »Irgendetwas quält dich noch viel mehr, das sehe ich! Lass uns darüber reden. Du bist doch nicht allein auf der Welt. Ich liebe dich, und vielleicht kann ich dir helfen. Es gibt für alles eine Lösung.«
Hoffentlich, dachte sie, denn so hatte sie ihn noch nie erlebt. Bisher hatte er ihr stets Halt gegeben.
Ohne zu antworten, stierte er hinaus in die tintenschwarze Winternacht.
Silke wartete mit angehaltenem Atem. »Marcus«, sagte sie schließlich. »Hast du mich überhaupt verstanden?«
»Ich werde diesen Kunden verlieren«, stieß er plötzlich hervor, aber so leise und undeutlich, dass Silke ihn kaum verstand. »Und da sein Auftragsvolumen gut achtzig Prozent meines Jahresumsatzes ausmacht, wird es mir finanziell wohl das Genick brechen. Geschäftlich und privat. Ganz abgesehen davon, dass mein Vater mich an die Wand nageln wird, bevor er mich rauswirft. Mindes tens einmal wöchentlich muss ich mir von ihm anhören, was er über meine Fähigkeit, die Firma zu führen, denkt. Er sucht doch schon lange nach einem Anlass, mich loszuwerden. Jetzt hat er ihn.«
Fassungslos starrte sie ihn an. »Was … was soll das genau heißen?«, stammelte sie.
Marcus kaute auf seiner Unterlippe. »Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll«, flüsterte er endlich.
Um einen Halt zu haben, verschlang sie die Finger ineinander, spürte, wie kalt und klamm sie waren, konnte nicht mehr atmen, weil ein tonnenschweres Gewicht ihr Herz zusammenpresste. »Sag’s einfach«, krächzte sie. »Benutze Worte dafür. Ich verstehe Deutsch.«
Er heftete seinen Blick auf seine verkrampften Hände, und als er zu sprechen begann, war es in einem tonlosen Singsang. »Es ist eine ganz simple Sache: Wenn ich diesen Kunden verliere, wird mein Vater mich aus der Firma werfen, garantiert. Und dann habe ich kein geregeltes Einkommen mehr. Unsere Rücklagen reichen vielleicht für ein paar Monate oder so, wenn wir vorsichtig sind.« Seine Stimme schwankte. Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln.
Silke sah es, und ihr wurde schwindelig. Sie drückte eine zitternde Hand auf den Mund, denn genau dieses Trauma hatte sie schon einmal erlebt. Anfang zwanzig war sie gewesen, und es hatte sie umso härter getroffen, weil die größte Sorge ihres damaligen Lebens ihre Abiturnote gewesen war. Ob sie es unter einem Durchschnitt von eins Komma fünf schaffen würde.
Sie hatte es geschafft und war daraufhin mit ihrer besten Freun din Andrea im Auto, das ihr Vater ihr zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte, für den größten Teil eines Jahres
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