Nachtsafari (German Edition)
Ausweg. Sie musste sofort Geld verdienen, und die Vorstellung, dabei ein Kind großzuziehen, stieß sie fast in den seelischen Abgrund.
Mit keinem Menschen hatte sie über ihre Situation geredet, auch nicht mit Andrea. Sie konnte es einfach nicht, obwohl sie sich eigentlich immer alles erzählten. Mit aller Kraft verdrängte sie das, was sie in England getan hatte, aber wenn ihr innerer Schutz mal nicht funktionierte und ihre Gedanken diese Wunde dennoch berührten, drückten ihr Trauer und schlechtes Gewissen die Kehle zu.
Zurück aus England rief sie ehemalige Freunde und Kollegen ihres Vaters wegen einer Anstellung an. Man versprach ihr, sich umzuhören, aber niemand rief zurück. Sie nahm es ihnen nicht übel. Die Wirtschaft befand sich in einer Krise, überall gab es reihenweise Entlassungen, da war ihr klar, dass ihre Chancen schlecht standen.
Also durchforstete sie Stellenanzeigen, schraubte ihre Ansprüche nach und nach auf den Nullpunkt und reihte sich schließlich in die lange Schlange im Arbeitsamt ein. Doch niemand wollte eine junge Frau, die sich zwar in deutscher Literatur und Kunstgeschichte auskannte und zweieinhalb Semester Pharmazie studiert hatte, ansonsten aber nichts vorweisen konnte.
Schließlich hatte sie eine sehr mäßig bezahlte Anstellung als Verkäuferin in einer Boutique gefunden – von den Erzeugnissen der angesagtesten Modedesigner verstand sie etwas und von den Frauen, die sie kauften, auch. An den Wochenenden arbeitete sie zusätzlich als Museumsführerin, was ihr sehr viel Spaß machte, und ergatterte, wenn auch sehr selten, Aufträge als externe Lektorin.
Die Zeit war beinhart gewesen, aber sie hatte sich durchgebissen, und darauf war sie stolz. Die Eigentümerin einer Kette von vier hochklassigen Boutiquen in Hamburg und Sylt sprach sie auf der lokalen Modemesse an und übertrug ihr kurz darauf die Leitung der Filiale in Hamburgs Innenstadt. Der Laden florierte, hauptsächlich wegen Silkes sicherem Stilempfinden und ihrer Art, auch Frauen mit einer nicht idealen Figur so gut zu beraten, dass sie ihn mit einem glücklichen Lächeln und einer schwarzen E inkaufstüte verließen. Und gern und oft wiederkamen.
Sie unterstützte ihre Mutter mit einer substanziellen Summe, aber diese erholte sich nie wieder von diesem Schicksalsschlag und starb vor fünf Jahren. Nach ihrem Tod hatte Silke zu ihrer Überra schung drei Schmuckstücke in einem Kilo Zucker versteckt gefunden, die ihre Mutter anscheinend für wirklich harte Zeiten heimlich beiseitegeschafft hatte. Der Erlös reichte für das Begräbnis und eine Spende für die Kinderkrebsstation im Universitätsklinikum in Hamburg. Vielleicht, so hoffte sie, konnte sie damit ein Leben retten. Ein Leben für das, das sie auf dem Gewissen hatte.
Silkes Bruder war nicht zur Beerdigung erschienen. Der Flug sei ihm zu teuer, schrieb er. Ihre Cousine Kathrin hatte einen Tag zuvor ihr erstes Kind bekommen und war deswegen verhindert gewesen. Die Freunde ihrer Mutter von früher hatten gedruckte Beileidskarten geschickt. Ihre Kollegen aus dem Supermarkt aller dings kamen fast vollzählig.
Und natürlich ihre Großeltern, die auf Amrum lebten. Mit rot geweinten Augen hatten sie jeder einen Arm um Silke gelegt, und so hatte sie die Beerdigung durchgestanden.
Abwesend beobachtete sie die wirbelnden Schneeflocken, die auf die Autoscheibe fielen. Das alles wollte sie nicht noch einmal durchmachen. Damals war sie abrupt aus ihrem behüteten Leben gerissen worden, und damals war sie allein gewesen. Jetzt war sie es nicht. Sie blickte zu Marcus. Jetzt hatte sie etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnte.
Unbewusst kaute sie auf dem Nagel ihres Zeigefingers. Marcus war ein sehr vorsichtiger Geschäftsmann, hatte sie festgestellt. Wenn er sagte, dass seine Rücklagen nur ein paar Monate ausrei chen würden, war das bestimmt übertrieben. Da war sie sich sicher. Oder untertrieben, das kam auf den Blickpunkt an. Im letzten Jahr war er an der Börse recht erfolgreich gewesen. Ge naues wusste sie nicht. Über seine finanziellen Verhältnisse redete er nie, über die Firma nur selten. Als sie sich kennenlernten, hatte sie ihn gefragt, womit er sein Geld verdiente. Aber er wollte mit ihr nicht über Geschäfte reden. Mit ihr wolle er fröhlich sein, hatte er gesagt. Unbeschwert. Mit ihr wolle er lachen.
»Ich will meine Seele bei dir ausruhen«, hatte er geflüstert und sie geküsst.
Und so war es bisher gewesen. Sie redeten nicht über Geld. Natürlich
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