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Nachtschicht

Nachtschicht

Titel: Nachtschicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Pillen gefunden hatte - natürlich waren seine Großeltern jetzt lange tot - und als er zwölf war, hatte er am Frühstückstisch eine dreiste Bemerkung gemacht. Er wußte nicht mehr worüber.
    Und seine Mutter war dabei, die bepinkelten Windeln ihrer Mutter zu waschen und sie dann durch den Wringer ihrer altertümlichen Waschmaschine zu drehen - und mit einer dieser feuchten, schweren Windeln ging sie auf ihn los. Der erste Schlag fegte seine Schüssel mit Cornflakes vom Tisch, und der zweite ging quer über seinen Rücken. Es hatte nicht weh getan, aber was er noch Witziges hatte sagen wollen, blieb ihm im Halse stecken, und die Frau, die jetzt zusammengeschrumpft in diesem Zimmer in diesem Bett lag, hatte ihm immer wieder die nasse Windel über den Rücken geschlagen und dazu gekeift: Wirst du endlich deinen großen Mund halten?
    Das einzige, was groß an dir ist, ist dein Mund, und du wirst ihn halten, bis du selbst groß geworden bist, und jedes kursiv gesetzte Wort war begleitet von einem Schlag mit der nassen Windel seiner Großmutter. Pfui Teufel! Alle witzigen Sprüche, die er noch gerne von sich gegeben hätte, lösten sich in Nichts auf. Es lohnte sich einfach nicht, gescheite Bemerkungen zu machen. An diesem Tag hatte er für den Rest seines Lebens begriffen, daß nichts so geeignet war, einen Zwölfjährigen auf seine wahre Größe zu reduzieren, als ihm die nassen Windeln seiner Großmutter um die Ohren zu schlagen. Von dem Tage an war ihm der Spaß an frechen Sprüchen für mindestens vier Jahre vergangen.
    Sie verschluckt sich ein bißchen an dem Wasser, und das beunruhigt ihn, obwohl er eben noch daran gedacht hat, ihr Tabletten zu geben. Er fragt sie noch einmal, ob sie eine Zigarette möchte, und sie sagt:
    – Wenn es dir nichts ausmacht. Aber dann solltest du lieber gehen. Vielleicht geht es mir morgen besser.
    Er schüttelt eine Filterzigarette aus einer der Packungen, die auf dem Tischchen neben ihrem Bett liegen. Er zündet sie an und hält sie ihr an den Mund. Sie spitzt die Lippen und zieht.
    Sie inhaliert nur schwach. Der Rauch quillt ihr gleich wieder aus dem Mund.
    – Mußte ich sechzig Jahre leben, damit mein Sohn mir die Zigarette hält?
    – Es macht mir nichts aus.
    Wieder zieht sie. Diesmal so lange, daß er den Blick von der Zigarette zu ihren Augen wendet. Sie sind geschlossen.
    – Mom?
    Sie öffnet die Augen einen Spalt.
    – Johnny?
    – Ja.
    – Wie lange bist du schon hier?
    – Noch nicht lange. Ich will jetzt lieber gehen, damit du schlafen kannst.
    – Hmmm.
    Er drückt die Zigarette in ihrem Aschenbecher aus und schleicht aus dem Zimmer. Er denkt: Ich muß den Arzt sprechen. Verdammt, ich muß den Arzt sprechen, der das getan hat.
    Als er in den Fahrstuhl steigt, denkt er, daß das Wort ›Arzt‹ zu einem Synonym für ›Mensch‹ wird, sobald ein Arzt sein Gewerbe beherrscht. Als erwarte man, daß Arzte grausam sein müssen, um so einen gewissen Grad von Menschlichkeit zu erreichen. Aber
    »Ich glaube nicht, daß sie es noch lange macht«, sagt er noch am gleichen Abend zu seinem Bruder. Sein Bruder lebt in Andover, siebzig Meilen weiter westlich. Er geht nur ein- oder zweimal die Woche ins Krankenhaus.
    »Ist es nicht mit ihren Schmerzen besser geworden?«
    »Sie sagt, es juckt.«
    Er hat die Tabletten in der Tasche seiner Wolljacke. Seine Frau schläft fest. Er nimmt sie heraus, gestohlen aus dem leeren Haus seiner Mutter, in dem sie einst alle zusammen mit den Großeltern lebten. Er dreht die Schachtel wie eine Kaninchen-pfote in den Händen, während er spricht.
    »Dann geht es ihr doch besser.« Für Kevin wird immer alles besser, als bewege sich das Leben auf einen erhabenen Gipfel zu. Es ist eine Ansicht, die der jüngere Bruder nicht teilt.
    »Sie ist gelähmt.«
    »Spielt das in dieser Situation eine Rolle?« 
    »Natürlich spielt es eine Rolle!« bricht es aus ihm hervor, und er denkt an ihre Beine unter der weißen Decke.
    »John, sie liegt im Sterben.«
    »Aber sie ist noch nicht tot.« Und gerade das bereitet ihm Entsetzen. Von hier aus bewegt sich die Unterhaltung im Kreise. Aber es bleibt der Kernpunkt. Sie ist noch nicht tot. Sie liegt nur in diesem Zimmer mit einer Marke am Handgelenk und lauscht auf die Phantomradios, die durch die Halle plärren. Und sie wird um die Zeit kämpfen müssen, sagt der Arzt. Er ist ein großer Mann mit einem roten Bart. Er ist über ein Meter achtzig groß und hat enorm breite Schultern.
    Der Doktor hat ihn taktvoll auf

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