Nachtschicht
den Flur hinausgeführt, als sie einnickte.
Der Arzt fährt fort:
– Sehen Sie, bei einer Operation wie der »Cortotomie« ist eine Beeinträchtigung der Motorik nahezu unvermeidlich. Ihre Mutter kann jetzt schon ihre linke Hand ein wenig bewegen. Es besteht Aussicht, daß sich in drei oder vier Wochen auch ihre rechte Hand ein wenig erholt hat.
– Wird sie wieder gehen können?
Mit kluger Miene starrt der Arzt gegen die Decke. Sein Bartwuchs reicht bis an den Kragen seines Wollhemds, und aus irgendeinem lächerlichen Grund denkt Johnny an Algernon Swinburne; warum, könnte er nicht sagen. Dieser Mann ist in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von dem armen Swinburne.
– Ich würde sagen, nein. Sie hat zuviel an Boden verloren.
– Sie wird also für den Rest ihres Lebens bettlägerig bleiben?
– Das dürfen wir wohl annehmen.
Er beginnt, Bewunderung für den Mann zu empfinden, den er hassen zu können glaubte. Ekel packt ihn. Ist die simple Wahrheit bewundernswert?
– Wie lange kann sie so leben?
– Das ist schwer zu sagen. (Das ist schon besser.) Der Tumor blockiert jetzt eine ihrer Nieren. Die andere arbeitet gut.
Wenn der Tumor sie ebenfalls blockiert, wird sie sterben.
– Ein urämisches Koma?
– Ja, sagt der Arzt ein wenig vorsichtiger. »Urämie« ist ein techno-pathologischer Begriff, dessen Verwendung normaler-weise Medizinern vorbehalten ist, aber Johnny kennt ihn, denn seine Großmutter ist daran gestorben, obwohl sie keinen Krebs hatte. Ihre Nieren hörten ganz einfach auf zu arbeiten, und als sie starb, war sie innen bis an den Brustkorb voll Pisse. Sie starb um die Essenszeit zu Hause im Bert. Johnny vermutete als erster, daß sie diesmal wirklich tot war und nicht nur schlief, komatös und mit offenem Mund, wie es alten Leuten eigen ist.
Zwei kleine Tränen waren aus ihren Augen gerollt. Ihr alter zahnloser Mund war verzerrt und erinnerte ihn an eine ausgehöhlte Tomate, in die man vielleicht Eiersalat gefüllt hat, um sie dann für einige Tage auf dem Küchenregal zu vergessen. Er hielt ihr eine Minute lang einen kleinen Taschenspiegel vor den Mund, und als das Glas nicht beschlug, rief er seine Mutter. All das war ihm so richtig erschienen wie diese Sache ihm falsch vorkam.
– Sie sagt, sie hat noch Schmerzen. Und daß es juckt.
Der Arzt tippt sich feierlich an den Kopf. Wie Victor DeGroot in den alten Psychiater-Comics.
– Sie bildet sich die Schmerzen ein. Aber sie sind dennoch wirklich. Für sie jedenfalls. Deshalb ist auch die Zeit so wichtig.
Ihre Mutter kann die Zeit nicht mehr nach Sekunden, Minuten und Stunden ausrechnen. Sie muß diese Einheiten zu Tagen, Wochen und Monaten umkonstruieren.
Er erkennt, was dieser große Mann mit dem Bart sagt, und er erschrickt. Leise erklingt eine Glocke. Er kann nicht mehr mit diesem Mann reden. Der Mann ist Naturwissenschaftler. Er redet so glatt von der Zeit, als hätte er sie so im Griff, wie man eine Angelrute hält. Und vielleicht ist das wirklich der Fall.
– Können Sie nicht mehr für sie tun?
– Sehr wenig.
Aber er wirkt heiter, als ob dies alles richtig wäre. Immerhin macht er einem keine »falsche Hoffnung«.
– Kann es Schlimmeres geben als ein Koma?
– Natürlich kann es das. Diese Dinge lassen sich nicht so genau ausrechnen. Es ist, als würde im Körper ein Hai losgelassen. Sie könnte aufschwellen.
– Aufschwellen?
– Ihr Unterleib könnte anschwellen und dann wieder abschwellen und dann noch einmal anschwellen. Aber warum sprechen wir über diese Dinge? Eins kann man mit ziemlicher Gewißheit sagen
daß sie die Sache machen würden, aber wenn sie es nicht tun?
Oder wenn man mich erwischt? Ich will doch nicht wegen Euthanasie angeklagt werden. Selbst wenn ich abhauen könnte. Er denkt an die schreienden Schlagzeilen der Zeitungen: MUTTERMORD. Und er verzieht das Gesicht. Er sitzt auf dem Parkplatz in seinem Wagen und dreht die Schachtel immer wieder in den Händen DARVON COMPLEX. Die Frage ist immer noch: Bringt er es fertig? Sollte er es tun? Sie hat gesagt: Ich.
wünschte, es wäre vorbei. Ich würde alles tun, damit es vorbeigeht.
Kevin hat davon gesprochen, .daß er ihr ein Zimmer in seinem Haus einrichten will, damit sie nicht im Krankenhaus sterben muß. Das Krankenhaus will sie loswerden. Sie haben ihr neue Tabletten gegeben, und sie wurde fast verrückt. Das war vier Tage nach der »Cortotomie«. Sie möchten sie gern woanders hinschaffen, denn bisher hat noch niemand eine
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