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Nachtschicht

Nachtschicht

Titel: Nachtschicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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am Krankenhaus ankam, war er ganz schön besoffen und hatte noch eine oder zwei Dosen übrig. Die Sachen) die er seiner Mutter bringen wollte, ließ er im Auto. So mußte er zurückkommen und konnte bei der Gelegenheit noch eine halbe Dose nachtanken, um den Pegel zu halten. Es gab ihm auch die Chance, draußen zu urinieren. Er parkte deshalb immer ganz am Rand des Parkplatzes auf zerfurchtem, gefrorenem Novemberdreck, und die kalte Nachtluft garantierte die totale Entleerung seiner Blase. In einer der Krankenhaustoiletten zu pinkeln war dagegen eine mit negativen Eindrücken gespickte Erfahrung: der Klingelknopf neben der Brille, an jeder Seite, ein chromglänzender, im Winkel von 45 Grad angebrachter Halte-griff, über dem Waschbecken die Flasche mit dem rosa Desinfektionsmittel - alles Sachen, denen man besser aus dem Wege geht, das können Sie mir glauben.
    Auf der Fahrt nach Hause verspürte er dann nicht mehr die geringste Lust, noch etwas zu trinken, und die übriggebliebenen Dosen wanderten in den Kühlschrank, bis es sechs waren und wenn er gewußt hätte, daß es so schlimm war, hätte er sie heute nicht besucht. Sein erster Gedanke war: Sie ist keine Apfelsine und der zweite: Sie stirbt immer schneller, als müßte sie noch einen Zug erreichen, draußen im Nichts. Ihr Körper wirkt angespannt, obwohl sie regungslos daliegt. Nur die Augen bewegen sich. Die Spannung ist in ihr. In ihr bewegt sich etwas. Ihr Hals sieht aus wie mit Mennige beschmiert, und unter ihrem linken Ohr sitzt ein Verband. Dort hat ein geschäftiger Arzt die Radiumnadel eingeführt, um ihr Schmerzzentrum zu zerstören. Leider gingen dabei auch sechzig Prozent ihres motorischen Nervensystems zum Teufel. Ihre Augen folgen ihm wie die eines Jesusbildes aus einem Kindermalbuch.
    – Es tut mir leid, Johnny. Heute abend geht es mir nicht besonders. Vielleicht ist es morgen besser.
    – Hast du Schmerzen?
    – Es juckt. Es juckt mich am ganzen Körper. Liegen meine Beine zusammen?
    Sie liegen nicht zusammen. Sie sind ein auf den Kopf gestelltes V unter der Bettdecke. In diesem Zimmer ist es viel zu heiß.
    Das zweite Bett ist nicht belegt. Patienten kommen und gehen, denkt er, nur meine Mutter hat keine Chance. Mein Gott!
    – Sie liegen zusammen, Mom.
    – Drück sie runter, Johnny, bitte. Und dann geh lieber. Ich habe jnich noch nie so hilflos gefühlt wie heute. Ich kann kein Glied rühren. Meine Nase juckt Ist das nicht ein jämmerlicher Zustand: Du liegst da, und deine Nase juckt, und du kannst dich nicht kratzen?
    Er reibt ihre Nase mit zwei Fingern, und dann faßt er ihre Unterschenkel und zieht, bis sie gestreckt nebeneinander liegen. Obwohl er keine besonders großen Hände hat, braucht er  nur eine Hand, um ihre beiden Beine mitsamt der Bettdecke zu umfassen. Sie stöhnt. Tränen rinnen über ihre Wangen zu den Ohren herunter.
    – Mom?
    – Kannst du meine Beine runterdrücken?
    – Das hab’ ich eben gemacht.
    – Oh. Dann ist es gut. Ich glaube, ich weine. Ich möchte nicht, daß du mich weinen siehst. Ich wünschte, es wäre vorbei. Ich würde alles tun, damit es vorbeigeht.
    – Möchtest du eine Zigarette?
    – Gib mir erst ein bißchen Wasser. Ich bin ganz ausgedörrt.
    – Gern.
    Er nimmt das Glas mit dem flexiblen Strohhalm und geht aus dem Zimmer. Ein fetter Mann mit einer elastischen Binde am Bein segelt langsam den Korridor entlang. Er trägt nicht den gestreiften Anstaltskittel und hält seinen »Johnny« hinten zusammen.
    Er füllt das Glas an dem Trinkbrunnen und kehrt zurück nach, Zimmer 312. Sie weint nicht mehr. Die Art, wie ihre Lippen nach dem Strohhalm greifen, erinnert ihn an Kamele, die er in einem Film gesehen hat. Ihr Gesicht ist abgezehrt.
    Seine lebhafteste Erinnerung an seine Mutter stammt aus der Zeit, als er zwölf war. Damals waren er und sein Bruder Kevin und diese Frau nach Maine gezogen, damit die Frau ihre Eltern pflegen konnte. Ihre Mutter war alt und bettlägerig. Hoher Blutdruck hatte seine Großmutter senil gemacht und sie, um das Maß voll zu machen, auch noch erblinden lassen. Herzlichen Glückwunsch zum sechsundachtzigsten Geburtstag! Und sie lag den ganzen Tag im Bett, senil und blind, eingepackt in dicke Windeln und unförmige Gummischlüpfer. Was sie zum Frühstück gegessen hatte, wußte sie nicht mehr, aber alle Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika konnte sie wie am Schnürchen aufzählen. Und so lebten die drei Generationen gemeinsam in dem Haus, in dem er heute diese

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