Nachtschicht
Wand. »Was ist das?« brüllte er. Seine Augen waren schwarze Schlitze.
»Was ist was?«
»Die Tür da.«
»Der Schrank«, sagte Dr. Harper. »Da hängt mein Mantel, und da stehen meine Galoschen.«
»Aufmachen. Das will ich sehen.«
Wortlos stand Dr. Harper auf, ging durch das Zimmer und öffnete den Schrank. Auf einem der vier oder fünf Bügel hing ein brauner Regenmantel, und unten standen schwarzglänzende Galoschen. In einer steckte eine zusammengerollte New York Times. Sonst nichts.
»Zufrieden?« fragte Dr. Harper.
»Ja.« Billings ließ sich auf die Couch zurücksinken.
»Sie behaupteten eben«, sagte Dr. Harper, als er wieder zu seinem Stuhl ging, »daß Sie keine Schwierigkeiten mehr hätten, wenn sich der Mord an Ihren Kindern beweisen ließe. Wieso?«
»Ich würde in den Knast gehen«, sagte Billings schnell.
»Lebenslänglich. Und im Knast kann man in alle Räume sehen.
Alle Räume.« Er lächelte dümmlich.
»Wie wurden Ihre Kinder ermordet?«
»Drängen Sie mich doch nicht!« Billings fuhr herum und sah Harper traurig an.
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, sagte er. »Ich bin keiner von den Typen, die herumlaufen und behaupten, sie seien Napoleon. Oder die behaupten, daß sie nur deshalb Heroin spritzen, weil ihre Mutter sie nie geliebt hat. Ich weiß, daß Sie mir nicht glauben werden. Scheißegal. Hauptsache, ich kann es erzählen.«
»Dann tun Sie’s doch.« Dr. Harper holte seine Pfeife aus der Tasche.
»Ich habe Rita 1965 geheiratet - ich war einundzwanzig und sie achtzehn. Sie war schwanger. Mit Denny.« Seine Lippen verzogen sich zu einem öligen Grinsen, das sofort wieder erlosch. »Ich mußte die Universität verlassen und mir einen Job suchen, aber das machte mir nichts aus. Ich liebte sie beide. Wir waren sehr glücklich. Kurz nach Dennys Geburt wurde Rita wieder schwanger, und Shirl kam im Dezember 1966. Andy wurde 1969 im Sommer geboren. Zu der Zeit war Denny schon tot. Andy war ein Betriebsunfall. So ähnlich drückte Rita sich aus. Sie jammerte immer, daß es keine sicheren Verhütungsmittel gibt. Aber es war schlimmer als ein Betriebsunfall. Mit Kindern hat ein Mann einen Klotz am Bein. Besonders, wenn der Mann gescheiter ist als die Frau. Finden Sie das nicht auch?«
Harper bezog nicht Stellung. Er räusperte sich nur.
»Das spielt aber keine Rolle. Ich habe den Jungen trotzdem geliebt.« Er sagte es fast boshaft. Ganz, als hätte er sein Kind geliebt, um seine Frau zu ärgern.
»Wer hat die Kinder umgebracht?« fragte Harper.
»Das Schreckgespenst«, sagte Lester Billings hastig. »Das Schreckgespenst hat sie alle umgebracht. Es kam einfach aus dem Schrank und tötete sie.« Wieder rutschte er auf der Couch hin und her und grinste. »Sie halten mich für verrückt. Das sehe ich Ihnen an. Aber das ist mir egal. Ich will es Ihnen nur erzählen, und dann zur Hölle mit mir.«
»Ich höre«, sagte Dr. Harper.
»Es fing an, als Denny fast zwei Jahre alt war. Shirl war noch ein Baby. Denny weinte, als Rita ihn zu Bett brachte. Unsere Wohnung hatte zwei Schlafzimmer, müssen Sie wissen. Shirl schlief bei uns. Zuerst dachte ich, daß er nur deshalb heulte, weil wir ihm nicht mehr die Flasche gaben. Rita sagte: Ist das denn so wichtig? Gib ihm doch die Flasche. Eines Tages wird er sie von selbst leid. Aber so kann aus Kindern nichts werden.
Man sieht ihnen alles nach und verwöhnt sie. Und dann machen sie einem Kummer. Schwängern Mädchen, wissen Sie, oder spritzen Heroin. Oder sie werden schwul. Können Sie sich vorstellen, daß Sie eines Morgens aufwachen und feststellen, daß Ihr Kind - Ihr Sohn - schwul ist?
Als das nicht aufhörte, brachte ich ihn immer selbst zu Bett.
Und wenn er nicht aufhörte zu heulen, hab ich ihn verprügelt.
Und Rita sagte mir, daß er immer wieder nach ›Licht‹ gerufen hätte. Ich hab das nicht kapiert. Wer versteht schon, was Kinder sagen, wenn sie noch so klein sind? Das weiß nur eine Mutter.
Rita wollte, daß wir eine Lampe brennen lassen. Sie kennen doch diese Tischlampen mit Mickymausfiguren. Ich habe das aber nicht zugelassen. Ein Kind muß seine Angst vor der Dunkelheit überwinden, solange es noch klein ist, sonst verliert es sie nie.
Jedenfalls starb er im Sommer nach Shirls Geburt. Ich hatte ihn abends ins Bett gebracht, und er fing sofort wieder an zu heulen. Diesmal verstand ich, was er sagte. Er zeigte auf den Schrank, als er es sagte. ›Schreckgespenst‹, sagte der Junge.
›Schreckgespenst,
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