Nachtschicht
klingelte dreimal, viermal.
Er nahm den Hörer auf. Hörte zu. Schloß die Augen.
Ein Streifenwagen überholte ihn auf dem Weg zum Krankenhaus und fuhr dann mit heulender Sirene voraus. Im Unfallraum war ein junger Arzt mit einem kurz gestutzten Schnurrbart. Er sah Jim aus dunklen, emotionslosen Augen an.
»Entschuldigen Sie, ich bin James Norman und-«
»Es tut mir leid, Mr. Norman. Ihre Frau ist um 21.04 Uhr gestorben.«
Er merkte, wie er ohnmächtig wurde. Die Welt um ihn herum rückte in weite Ferne. Alles verschwamm vor seinen Augen, und in seinen Ohren summte es schrill. Sein Blick wanderte ziellos umher, sah grün gekachelte Wände, eine fahrbare Bahre, die im Licht der Deckenlampe glitzerte, eine Schwester mit schief sitzender Haube. Zeit, daß du dich im Spiegel überprüfst, Schätzchen. Ein Pfleger lehnte an der Wand vor dem Unfallraum Nr. 1. Er trug einen schmutzigen weißen Kittel, auf dem ein paar vereinzelte Blutflecken schimmerten, und war gerade dabei, mit einem Messer seine Fingernägel sauberzumachen. Der Pfleger hob den Kopf und grinste Jim an.
Es war David Garcia.
Da verlor Jim das Bewußtsein.
Die Beerdigung. Wie ein Tanz in drei Akten. Das Haus. Die Leichenhalle. Der Friedhof. Gesichter, die aus dem Nichts auftauchten, vorbeiwirbelten und irgendwo in der Dunkelheit wieder verschwanden. Sallys Mutter, die tränennassen Augen hinter einem schwarzen Schleier verborgen. Ihr Vater, der fassungslos und alt aussah. Simmons. Andere. Sie stellten sich vor und schüttelten ihm die Hand. Er nickte, ohne sich ihre Namen zu merken.
Ein paar Frauen brachten etwas zu essen mit, eine von ihnen eine Apfeltorte, von der irgend jemand ein Stück aß, und als er in die Küche kam, sah er sie auf dem Küchenschrank stehen, und dort, wo sie angeschnitten war, quoll der Saft wie gelb-braunes Blut auf den Tortenteller, und er dachte: Fehlt nur noch ein ordentlicher Löffel Vanilleeiscreme oben drauf.
Er merkte, wie seine Hände und Beine zitterten und verspürte den Wunsch, hinüber zum Küchenschrank zu gehen und den Kuchen gegen die Wand zu schleudern.
Und dann verabschiedeten sie sich, und es kam ihm so vor, als sähe er sich in einem selbstgedrehten Videofilm, wie er Hände schüttelte, nickte und sagte: Danke … Ja, das werde ich … Vielen Dank … Das ist sie bestimmt … Danke …
Als alle fort waren, gehörte das Haus wieder ihm allein. Er ging hinüber zum Kaminsims, das mit Andenken aus ihren Ehejahren vollgestellt war. Ein Stoffhund mit Perlen als Augen, den sie während ihrer Flitterwochen auf Coney Island gewonnen hatte. Zwei Ledereinbände mit seinem und ihrem Universitätsdiplom. Ein Paar Riesenwürfel aus Styropor, die sie ihm geschenkt hatte, nachdem er vor ungefähr einem Jahr beim Pokern einmal sechzehn Dollar verloren hatte. Eine Tasse aus feinem Chinaporzellan, die sie im letzten Jahr in einem Trödel-laden in Cleveland gekauft hatte. Und in der Mitte ihr Hochzeitsphoto. Er legte es hin, setzte sich in seinen Sessel und starrte auf den leeren Bildschirm des Fernsehgeräts. Und langsam nahm ein Plan in seinem Kopf Gestalt an.
Eine Stunde später klingelte das Telefon und riß ihn aus einem leichten Halbschlaf. Er griff nach dem Hörer.
»Der nächste bist du, Norm.«
»Vinnie?«
»Mann, sie war wie ‘ne Tontaube in ‘ner Schießbude. Peng und kaputt.«
»Ich werde heute abend in der Schule sein, Vinnie. Raum 23.
Ich lasse das Licht aus. Es wird genauso sein wie unter dem Bahnübergang damals. Ich denke, ich kann sogar einen Zug beschaffen.«
»Du willst die Sache endlich zu Ende bringen, was?«
»Richtig. Ihr werdet also da sein.«
»Vielleicht.«
»Bestimmt«, antwortete Jim und hängte ein.
Es war fast dunkel, als er die Schule erreichte. Er parkte den Wagen auf dem üblichen Platz, öffnete den Hintereingang mit seinem Hauptschlüssel und ging zuerst hinauf zur englischen Abteilung im ersten Stock. Er schloß auf, öffnete den Plattenschrank und ging die Schallplatten durch. Ungefähr in der Mitte des Stapels hielt er ein und zog eine Platte mit dem Titel Hi-Fi Sound Effects heraus. Er drehte sie herum. Das dritte Stück auf der A-Seite war »Güterzug: 3:04.« Er legte das Album auf den tragbaren Plattenspieler der Abteilung und zog Wie man Geister beschwört aus seiner Manteltasche. Er schlug das Buch an einer markierten Stelle auf, las und nickte. Dann schaltete er das Licht aus.
Raum 23.
Er baute den Plattenspieler auf, stellte die Lautsprecherboxen so weit wie
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