Nachtseelen
mit Spucke benetzt und ihr damit über das Gesicht gerubbelt hätte.
Alba wich einen Schritt zurück. Ihre Mutter verdrehte die Augen, was übersetzt so viel wie »Dieses Kind bringt mich noch ins Grab« hieÃ, und geleitete Alba in den Blauen Salon â ausgerechnet in den Raum, den Alba am meisten verabscheute. Sobald sie durch die Tür schritt, fühlte sie sich erdrückt von der Pracht der Ausstattung. Vor allem aber von den Erinnerungen, die damit verbunden waren: »Du bist nicht normal«, hatte ihre Mutter gezischt und sie durch die Flure des Anwesens geschleift, um sie in diesem Zimmer einzusperren. »Es ist
nur eine Frage der Zeit, bis du uns alle im Schlaf abstichst!«
Nun ja, bisher waren alle wohlauf. Alba lieà sich auf ein Sofa im Biedermeier-Stil nieder. Gobelins und Stofftapeten bekleideten die Wände wie in einem Museum; die hellblauen Polster der Möbel harmonierten mit den goldenen Verzierungen der Spiegel, die überall angebracht waren. Wenn sie sich umschaute, hatte sie das Gefühl, von einem Dutzend Albas angestarrt zu werden. Einst hatte sie all die Spiegel hier mit den blanken Fäusten zerschlagen. Mit den Scherben hatte sie dann die blauen Polster aufgeschlitzt. Vermutlich hätte sie bis heute noch Stubenarrest gehabt, wenn ihr Vater seine Frau damals nicht besänftigt hätte.
Die Mutter holte sich ein Glas Rotwein, setzte sich und schlug ein Bein über das andere. Sie schwenkte den Wein, roch an der rubinroten Flüssigkeit und nippte daran. Böse Zungen â wie die von Albas leiblichem Vater â behaupteten, sie saufe sich ihren reichen Mann schön, denn so könne sie die Kotzerei mit Alkohol erklären und nicht damit, dass sie mit ihm ins Bett steigen müsse. Dummes Gerede. Denn ihre Mutter schlief mit sämtlichen Geschäftspartnern ihres Gatten, nur nicht mit ihm. Alba verabscheute sie für diese Hurerei und fragte sich nicht zum ersten Mal, warum Elmar Wagner seine untreue Frau nicht davonjagte. Ob er wirklich nichts ahnte? Oder es übersah, weil er es nicht sehen und erkennen wollte?
»Falls du zu Elmar willst â er ist nicht da«, erklärte die
Mutter. »Du hättest dich vorher anmelden sollen, du weiÃt ja, wie beschäftigt er ist.«
Tja, ohne Termin kam man im Hause Wagner nicht weit. Alba fischte aus ihrer Handtasche den Umschlag, holte den Zettel heraus und schob ihn über das Beistelltischchen ihrer Mutter zu. Das Blatt wirkte fehl am Platz auf der polierten, mit Perlmutt verzierten Oberfläche. Dieselben Gedanken schien auch ihre Mutter zu haben. Sie rümpfte die Nase und hob das Blatt mit zwei Fingern auf. »Was ist das, Liebes?«
Doch sobald ihr Blick auf die Unterschrift fiel, verfinsterte sich ihr Gesicht. Mit einem Schlag sah sie alt aus. Unter dem Make-up, das wie Verputz an ihrem Gesicht haftete, gruben sich Fältchen in ihre Haut.
»Ich glaube es nicht! Das war sicherlich die Sekretärin deines Vaters, diese dumme Gans, die den Brief weitergeleitet hat. Sie hätte ihn in den Müll werfen sollen!« Ruckartig stand sie auf und verschüttete etwas Wein auf dem Parkett.
Alba holte Luft, doch ihre Mutter redete weiter: »Dass Hermann ⦠Unglaublich, dieser Mann! Wie kann er es nur wagen, nach allem, was passiert ist â¦Â« Sie verstummte, als wäre ihr Albas Anwesenheit plötzlich eingefallen, und zwang sich zu einem Lächeln. »Ach, ich weià nicht, was in mich gefahren ist. Entschuldige, mein Kind.« Sie setzte sich wieder, doch ihre betont aufrechte Haltung wirkte, als habe sie einen Stock verschluckt.
Hermann? Alba sortierte ihre Gedanken. Der GroÃvater
Hermann Herzhoff? Man bekam nicht oft Post von jemandem, der seit Jahren tot war. Er starb, als sie neun war, zumindest hatte man ihr das so gesagt. Aber warum erreichte sein Brief sie erst jetzt? Und was um alles in der Welt wollte er mit den verhunzten Macbeth-Zeilen sagen?
Irgendetwas stimmte hier nicht. Alba versuchte, sich an die Umstände seines Todes zu erinnern, konnte es aber nicht.
»Vergiss den Brief. Hat dir Georg schon von dem Empfang erzählt?«, plapperte ihre Mutter weiter. Viel zu fröhlich, viel zu laut, viel zu eindringlich. Was wollte die Frau damit überspielen? »Und hör auf, an deinen Haaren zu zupfen, das ist ja nicht auszuhalten!«
Alba lieà die Hände sinken. Unbewusst hatte sie wieder an ihren Haarspitzen gerupft. Sie
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