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Nachtseelen

Titel: Nachtseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krouk Olga
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beugte sich vor, um den Zettel zu nehmen, als ihre Mutter ihn wie gedankenverloren in kleine Stücke zerriss. Die Geste traf Alba einer Ohrfeige gleich, die sie als Kind zur Genüge bekommen hatte.
    Â»Oh, es tut mir leid. Wolltest du ihn behalten, Liebes?« Auf der Handfläche streckte sie ihr die Fetzen entgegen.
    Nein, fürs Puzzeln hatte sie noch nie viel übriggehabt. Zum Glück kannte sie die Zeilen bereits auswendig.
    Sie erhob sich und verließ den Raum, mit erhobenem Kopf und geradem Rücken, so wie ihre Mutter es ihr stets eingetrichtert hatte: Wie eine Prinzessin musst du
dich geben – in den Kreisen, zu denen wir nun gehören, erwartet man das von dir. Jetzt sollte die Mutter doch ihren prinzessinnenhaften Hintern beim Abgang bewundern.
    Sie musste einfach herausfinden, was es mit dem Zettel auf sich hatte. Wenn Tote Briefe schrieben, dann sicherlich nicht vor Langeweile im Jenseits. Wie von einer anderen Macht geführt, suchte Alba das Arbeitszimmer ihres Vaters auf. Die Mutter war ihr nicht gefolgt, bestimmt, um in Ruhe noch ihren Wein auszutrinken.
    Hinter dem altertümlichen Tisch aus Nussbaumholz, umschlossen von hohen Regalen mit unzähligen Ordnern, fühlte sich Alba verloren, als wäre sie beim Eintreten auf die Größe eines Käfers geschrumpft. Sie versank im Bürosessel und schaltete den PC ein. Ihre Finger verharrten über der Tastatur, dann tippte sie den Namen ihres Großvaters in die Suchmaschine ein. Es überraschte sie, wie viele Ergebnisse die Seite ausgespuckt hatte. Er war ein ehemaliger Professor der Mythologie und recht angesehen auf seinem Fachgebiet, wenn sie dem Internet Glauben schenken durfte. Trotz seines hohen Alters, sah er auf den Fotos erstaunlich fit aus, und vor allem – er war nicht tot. Behauptete das World Wide Web.
    Sie saß vor dem Monitor und fragte sich, was ein normaler Mensch dabei hätte empfinden sollen. Denn in einem behielt ihre Mutter Recht: Sie war nicht normal. Starke Gefühle schlummerten bloß in ihr, und es gab keinen, der diese aus dem Dornröschenschlaf geweckt hätte. Was Alba empfand, waren nur Echos von ihnen.

    Das Online-Telefonbuch zeigte Hermann Herzhoffs Adresse in Klein Flottbek an, einer netten Gegend, die dem Stand eines Professors gänzlich entsprach. Unzählige Fragen türmten sich in ihrem Kopf. Was war mit ihm geschehen? Wurde er von ihrer Familie totgeschwiegen? Warum? Und aus welchem Grund wandte er sich plötzlich an sie mit dieser seltsamen Nachricht? Alba durchforschte ihren Geist nach irgendwelchen Erinnerungen an ihren Opa. Kannte sie ihn als Kind? Tief in ihrem Innern kribbelte es, als läge die Wahrheit zum Greifen nah … aber da war nichts. Sie ließ sich gegen die Sessellehne fallen.
    Ihre Kindheit verbarg sich hinter dem Schleier des Vergessens. Das erste Bild stammte aus der Zeit, als sie etwa zehn Jahre alt war. Sie war in eine Privatschule gekommen, stand vor der Klasse und musterte misstrauisch die vielen neuen Gesichter. Endlich durfte sie Platz nehmen. Sie saß da wie auf rohen Eiern, spürte die Blicke, die die anderen ihr zuwarfen, und wünschte sich, vom Boden verschluckt zu werden. Denn sie gehörte nicht zu diesen reichen, wohlerzogenen Kids. Da drehte sich ein Junge am Tisch vor ihr um, grinste und flüsterte: »Hi, ich bin Georg. Und ich weiß, wie weit es von hier bis zu der Sonne ist.«
    Â»Mein Gott, Alba!« Ihre Mutter stand auf der Schwelle, die Hände in die Hüften gestemmt. Das Glas Rotwein hatte sie anscheinend erfolgreich bezwungen. »Was ist bloß in dich gefahren? Du kannst doch nicht hierherkommen, mir diesen Zettel unter die Nase schieben
und dich dann hierher verdrücken! Was wird bloß Elmar sagen!«
    Nichts, vermutlich. Wenn sich ihr Vater wegen jedes bisschens aufregen würde, wäre er schon längst als ein Nervenbündel auf der Couch eines Psychotherapeuten gelandet und würde nicht an der Spitze einer Bankenkette stehen. Rasch schaltete Alba den PC ab, ohne ihn ordnungsgemäß herunterzufahren, schnappte ihre Handtasche und zwängte sich ohne Erklärung an ihrer Mutter vorbei zur Treppe.
    Â 
    Bis zum Haus ihres Opas brauchte Alba dreißig Minuten. Sie wählte nicht den direkten Weg über die Elbchaussee, sondern kurvte – fast ziellos – durch die kleineren Straßen, um nachzudenken. Die Vorstellung, den alten Mann bald zu sehen, verunsicherte

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