Nachtseelen
jagt ihr eine Heidenangst ein, sie muss fliehen, doch sie weiÃ: Sie darf auf keinen Fall ins Licht gehen â dort lauert etwas viel Schlimmeres, was sie sich nicht einmal vorstellen kann. Eine schwarze Gestalt verdeckt das Licht. Sie selbst schreit aus Leibeskräften, fällt und ertrinkt in der Dunkelheit.
An dieser Stelle wachte sie immer auf. An Einschlafen war dann nicht mehr zu denken. Allein die Vorstellung, die Augen schlieÃen zu müssen, versetzte sie in Panik. Manchmal weckten ihre Schreie Georg auf. Dann lagen
sie eng umschlungen da und warteten zusammen auf den Anbruch des Morgengrauens. Oft fragte sie sich, wie er es mit ihr aushielt.
Die Träume kamen regelmäÃig. Inzwischen hatte sie sich fast daran gewöhnt, sich vor der Nacht zu fürchten, denn etwas anderes kannte sie nicht. Wenn sie von den Mahren verschont blieb, tauchte sie in einen schweren, traumlosen Schlaf ein und wachte mit dem Gefühl auf, am Abend zuvor bewusstlos geschlagen worden zu sein.
Georg reckte sich genüsslich und gähnte, so dass sie sein perfektes Gebiss sehen konnte. »Somit erkläre ich die Nacht für beendet und mache uns Frühstück, okay?«
Er sprang aus dem Bett. Ein aufwendiges Phönix-Tattoo, das er, kurz nachdem er von seiner Krankheit erfahren hatte, von der L.A.-Reise mitgebracht hatte, schmückte sein Schulterblatt. Mach dir keine Sorgen, Alba , hatte er lachend erklärt, ich bin wie der Phönix, ich werde aus der Asche aufsteigen. Du wirst es schon sehen. Jedes Mal, wenn sich die Muskeln unter der sonnengebräunten Haut bewegten, schien der Vogel aus den Flammen emporzuflattern. Georg machte kreisende Bewegungen mit den Armen. Der Phönix erwachte zum Leben und strebte dem neuen Tag entgegen. Wenn Alba seine durchtrainierte Statur sah, konnte sie sich an ihm nicht sattsehen, und gleichzeitig hasste sie seine Gene, die ihn so perfekt machten und doch heimlich im Stich lieÃen.
Georg schlüpfte in einen Morgenmantel, dann hörte Alba seine nackten FüÃe auf dem Parkett im Flur. Die Treppe knarrte, als er in die Küche hinabstieg.
Sie blieb noch eine Weile liegen. Die Panik, die sie im Alptraum verspürt hatte, war zurückgewichen, aber das bedrückende Gefühl lastete noch auf ihr.
Endlich fand sie die Kraft, sich aufzurichten. Sie schob die Beine über die Bettkante, stand auf und machte ein paar vorsichtige Schritte in der Erwartung, einen Schwindelanfall zu bekommen. Als sie sich mehr oder minder sicher aufrecht fühlte, schlich sie ins Bad.
Unter der Dusche verbrachte sie eine kleine Ewigkeit. Der abwechselnd warme und kalte Wasserstrahl spülte den Schweià von ihrer Haut und belebte ihre Sinne. Sie begann sogar, etwas vor sich hin zu summen. Als sie aus der Kabine trat, fühlte sie sich wie neugeboren.
Der Duft von Kaffee und Rührei kitzelte ihre Nase. Alba trocknete ihr Haar mit dem Handtuch ab, wickelte sich in einen Bademantel und eilte in die Küche. Der Frühstückstisch wartete bereits auf sie. Georg hatte die Post geholt und im Garten eine Dahlienblüte gepflückt, die jetzt golden auf ihrer Serviette leuchtete.
Galant schob er Alba einen Stuhl unter, schenkte den Orangensaft ein und schabte die Hälfte des Rühreis aus der Pfanne auf ihren Teller.
»Iss aber vorsichtig.« Er setzte sich ihr gegenüber, beugte sich über den Tisch und flüsterte verschwörerisch: »Mir ist etwas von der Eierschale reingefallen.«
Alba konnte nicht anders, als ihm ein Lächeln zu schenken. Er grinste zurück, faltete die Financial Times auseinander und vertiefte sich in die Lektüre. Sie beobachtete ihn. War er wirklich der perfekte Mann für sie?
Sie verscheuchte den Gedanken. Vielleicht sollte sie sich lieber fragen, ob sie eine perfekte Freundin für ihn war?
Die südländischen Züge ihres Gesichtes, die vollen Lippen und grünen Augen hatten viele Männer um den Verstand gebracht, doch ihre Gefühlsleere lieà die Verehrer schneller abkühlen als eine eisige Dusche frühmorgens.
Alle, bis auf Georg. Tag für Tag gab er ihr Halt, obwohl es eigentlich sie sein müsste, die ihn im Leben stützen sollte.
»Ach, übrigens, du hast einen Brief bekommen«, sagte er und reichte ihr einen zerknitterten Umschlag mit alten Fett- und Kaffeeflecken. Alba zögerte, das Kuvert zu nehmen â wer weiÃ, womit man sich dabei ansteckte, so wie der aussah? -,
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