Nachtseelen
ist nicht einmal ein Jahr her. Ein Abtrünniger aus Linneas Gemeinde war an mich herangetreten. Er wollte Rache nehmen, weil Johannes sein Seelentier auf Befehl der Königin geschlachtet hatte. Ich habe zugestimmt, weil er mir dafür wichtige Informationen angeboten hatte.« Adrián kniff die Augen zusammen und ballte die Hände. Jede Sehne, jeder Knöchel stach scharf hervor. »Du kennst mich nicht, Alba, du weiÃt nicht, wozu ich fähig bin. Und bis zu diesem Tag wusste ich es nicht einmal selbst. Ich habe Johannes nicht einfach so umgebracht, ich habe ihn zwei Tage lang gefoltert. Als seine Gemeinde ihn fand, musste er von seinen eigenen Leuten aus Gnade getötet werden.«
Alba wusste nicht, ob sie Mitleid empfinden sollte oder Genugtuung, weil ihr Peiniger hatte Qualen erleiden müssen. Ob sie sich freuen sollte, weil er tot war, oder verzweifeln, weil mit ihm die einzige Verbindung zu der Monsterfrau abriss. Der Frau, die sie unbedingt finden musste, um sie zu stoppen und die Kinder, die gerade entführt worden waren und wie sie selbst durch die Hölle gingen, zu retten.
»Warum interessiert er dich so?«
Alba fand keine Worte, um es ihm zu erklären â wie und womit hätte sie auch anfangen sollen? Deshalb konzentrierte sie sich auf ihre Erinnerungen und schickte diese zu Adrián. Von den Anstrengungen bekam sie Kopfschmerzen, als malträtiere jemand ihre Stirn mit einem Eispickel, und ihr wurde speiübel. Sie musste sich abstützen, um nicht zusammenzusacken.
Adrián starrte sie erschüttert an. An diesem grauen Tag wirkte alles irgendwie düster, doch der Ausdruck seines Gesichts vereinte in sich alle Abgründe dieser Welt. Seine Augen wirkten glanzlos und entseelt.
» Dios mÃo! Wenn ich das gewusst hätte â¦Â« Er verstummte, dann setzte er erneut an, so gefasst und leise, dass Alba eine Gänsehaut bekam und sich unwillkürlich über die Arme rieb. »Wenn ich das gewusst hätte, wäre das, was ich mit ihm angestellt habe, im Vergleich zu dem, was ich jetzt mit ihm anstellen will, wie zwei Kuschelabende unter Freunden.«
Alba fiel auf den Rücken. Sie achtete darauf, tief zu atmen, um nicht erbrechen zu müssen. Für heute war sie nicht mehr imstande, mental zu kommunizieren. Jeder auch noch so flüchtige Gedanke schien ihre Stirn wie mit einer Axt zu spalten.
Ihre Stimme leierte, als sie sprach: »Ich hatte gehofft, durch ihn an die Monsterfrau zu kommen.«
»Nein!«, unterbrach Adrián sie, ehe sie den Satz beendet hatte. »Das ist viel zu gefährlich.«
Sie schnaubte. »I-ich bin ein groÃes Mädchen. Und du â nicht mein Vater.«
In seine Augen kehrte Leben ein. »Bloà dein GroÃonkel. Na gut, vielleicht gibt es doch noch eine Chance, an diese Frau zu gelangen. Metamorphe jagen meistens im Dreier-Team. Zu Johannes gehörten Kilian, sein inzwischen verstorbener Bruder, und Sebastian, der Abtrünnige, von dem ich dir erzählt habe.«
Ein Mann, der sein Seelentier verloren und seinen Kameraden an einen Nachzehrer ausgeliefert hatte? Alba erschauderte. »Was ist mit diesem Sebastian?«
Adrián verzog das Gesicht. »Der lebt noch, wenn man das als Leben bezeichnen kann. Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke, ihn aufsuchen zu müssen. Den Verlust seines Seelentiers verkraftet kein Metamorph auf Dauer. Der Kerl ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Ich bringe dich zu ihm, wenn du willst, aber das wird keine schöne Angelegenheit sein.«
»Wann suchen wir ihn auf?«
»Später. Irgendwann.«
»Nein. Jetzt. Bitte! Du weiÃt selbst, wie wichtig das ist.«
Er seufzte resigniert, zu müde, um mit ihr zu streiten. »Okay. Bist du mit einem Auto hier?«
Sie nickte.
»Dann geh schon einmal zum Wagen. Ich brauche noch ein Weilchen.«
Was auch immer »ein Weilchen« bei den Untoten zu bedeuten hatte â¦
Kapitel 21
S ebastian â oder wie Adrián ihn genannt hatte: der Abtrünnige â wohnte in Wilhelmsburg, einem Stadtteil im Süden Hamburgs, der in den Köpfen vieler vor allem mit Plattenbauten, Armut und Gewalt assoziiert war. Diese Gegend kannte Alba nur aus Zeitungen, wenn die Rede wieder mal auf Jugendbanden und Kriminalität kam. In letzter Zeit bekamen die Medien allerdings ein anderes Fressen serviert: Wilhelmsburg, dieser soziale Härtefall Hamburgs, sollte in ein Kulturviertel
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