Nachtseelen
schloss, sah sie Georgs Rücken, den er ihr zugewandt hatte. Wenn sie in sich hineinlauschte, spürte sie seinen Blick, der sie verurteilte. Immer wieder spielte sie die Szene des Abschieds in ihrem Kopf durch.
Was hast du auch erwartet?, höhnte Alba, während sie aus dem Fenster starrte, ohne etwas zu sehen. Du trennst dich von ihm, einfach so, in gegenseitigem Einvernehmen?
Ja, gestand sie sich, das hatte sie in der Tat erwartet. Dass er sie auf seine kühle norddeutsche Art umarmen und sie mit guten Wünschen weiterziehen lassen würde. Nein, wehtun wollte sie ihm nicht, und doch hatte sie es getan. Alba fuhr herum und spähte durch die Heckscheibe, als erwarte sie wirklich, Georgs Haus zu sehen. Und hätte sie es gesehen, wäre sie umgekehrt. Doch ihrem Blick offenbarte sich eine fremde StraÃe, und sie zwang sich, wieder nach vorn zu schauen.
Mit welcher Aufregung war sie anfangs der Spur gefolgt, die ihr Opa gelegt hatte. Wie bereitwillig war sie
der neuen Welt entgegengeschritten, die sich ihr öffnete. Und nun? Sie war in der neuen Welt angelangt. Aber war es wirklich ihre Welt? Sie fühlte sich nicht dazugehörig, denn sie war weder untot, noch besaà sie ein Seelentier. Verflucht, wenn alles vorbei war, würden ihre Erinnerungen daran vermutlich ausgelöscht sein, und sie bliebe mit leeren Händen zurück. Ohne Georg. Und dann auch ohne Finn.
Alba konnte nicht gleich zu Conrad fahren. Nicht nach alldem, was passiert war. Nicht, wenn ihr der Kopf schwirrte wie nach einem Stich ins Wespennest. Damit wollte sie Finn nicht belasten, der ihretwegen schon genug zu ertragen hatte. Erstmal musste sie selbst zur Besinnung kommen. Deshalb lieà sie sich in die Werkstatt bringen, in der ihre Corvette bereits auf sie wartete.
Beim Anblick des Wagens wurde ihr noch elender zumute. Früher hatte sie alles selbst an dem Auto gemacht, jede Beule eigenhändig behoben. Jetzt stand ihr Baby in vollem Glanz vor ihr, sie hielt den Schlüssel in der Hand, doch das Auto fühlte sich fremd an. Wie das Leben um sie herum. Aber was sollte sie tun? Sie musste weiter.
Alba lieà den Wagen durch die StraÃen rollen, raste nicht und brach keine Verkehrsregel. Als müsse sie sich an die Corvette erstmal gewöhnen.
Wie Conrad gesagt hatte, fand sie Adrián auf den Stufen des Kais gegenüber den Alsterarkaden. An diesem Tag wirkte sogar dieses schöne Plätzchen grau und trostlos, sogar die Bögen des Arkadenganges im italienischen
Stil, die einen sonst stets ein wenig an Venedig denken lieÃen, verbreiteten Schwermut. Das Wasser schwappte träge gegen das Steinkorsett, in das die Binnenalster von Menschenhand gezwängt worden war. An den Masten entlang des Kais flatterten mehrere Fahnen. Etwas weiter bemerkte Alba eine Gestalt, die auf den Stufen saà und einer Vogelschar mechanisch Brötchenstücke zuwarf. Adrián. Möwen, Gänse, Enten und Tauben lärmten um ihn herum, wahrten aber Distanz, als würde ein unsichtbarer Schutzschild ihn von der Welt abschirmen. Nur ab und zu wagten sich die Vögel näher heran und schnappten nach den Brotstückchen, um sogleich davonzueilen. Ein Verhalten, das Alba bei diesen Gierhälsen mehr als ungewöhnlich erschien. Die Tiere spürten offenbar, dass der Mann tot war.
Alba kam näher, überschritt die unsichtbare Grenze.
Adrián ignorierte sie. Vermutlich ignorierte er das ganze Universum um sich herum, und Alba gehörte nun mal einfach dazu.
»H-hilft es?«, fragte sie eher sich selbst als ihn. Sie hob ein paar Steinchen auf und warf diese einen nach dem anderen ins Wasser. »Wenn m-man lange genug zum anderen U-ufer starrt?«
Adrián antwortete nicht. Erst nach einer Weile brach er das Schweigen: »Nein, tut es nicht. Ich dachte, wenn ich fliehe, fort vom Clan und allem, was mich an meine Evy erinnert, wenn ich so richtig die Sau rauslasse, dann wird es mir bessergehen. Naiv, nicht wahr, besonders für mein Alter.« Er zerrte am Kragen seines Hemdes, als
ersticke er. Ein Knopf sprang ab. »Man glaubt es gar nicht, wie sehr totes Fleisch schmerzen kann.«
»I-ich habe Georg v-v-verâ¦Â«, ihre Zunge wollte es nicht aussprechen. Also bemühte sie wieder mal ihren Kopf. Ich dachte, wenn ich die Wahrheit sagte, wenn ich meinem Herzen vertraute und mich endlich entschied, würde ich glücklich sein können. Wie schön, dass ich nicht die Einzige bin,
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