Nachtseelen
kommen müssen«, war das Letzte, was er hörte, bevor seine Sinne sich von ihm verabschiedeten und er einschlief.
Kapitel 24
F inn war längst gegangen, und Alba hatte sich immer noch nicht von der Stelle gerührt, zerrissen von widersprüchlichen Gefühlen. Im Boden wollte sie versinken, sterben vor Scham, wenn sie an Conrad dachte. Und gleichzeitig ⦠Wäre Finn jetzt noch bei ihr gewesen, wäre sie wie eine Ausgehungerte über ihn hergefallen, und es hätte sie keineswegs gekümmert, wer ihr dabei zugesehen hätte. Die eigene Freizügigkeit erschreckte sie. Wie die Mutter, so die Tochter. Hatte sie sich nicht geschworen, anders zu werden? Ja. So wie einiges andere auch. In ihrem Leben hatte sie sich so viele Schwüre gegeben, die sie in der letzten Zeit Finns wegen gebrochen hatte, dass es schon erschreckend war, bloà daran zu denken.
Was geschieht mit mir, dass mich ein Mann so um den Verstand bringt ? Was haben wir bloà getan?
Nichts.
Im Grunde war doch nichts passiert, auÃer dass Finn sie geküsst hatte, überall, und vor allem dort, wo sie noch niemand hatte küssen dürfen. Die Ekstase war unerwartet über sie hereingebrochen, hatte sie mitgerissen, alle ihre Sinne herumgewirbelt ⦠und hinterlieà Trümmer und Verzweiflung.
War es echt gewesen, all das, was sie empfunden hatte? Liebte sie Finn wirklich? Oder waren es bloà Schuldgefühle, die sie in seine Arme trieben, und die Erkenntnis, dass er sie damals aus dem Keller gerettet hatte?
Alba hielt inne, suchte nach einer Antwort tief in ihrer Seele. Und da waren sie, die Gefühle, die ihr vollkommen fremd waren, die sie irritierten und sie mit ihrer Intensität erschreckten. So vieles, was sie schon länger, noch bevor sie von der gemeinsamen Vergangenheit mit Finn erfahren hatte, zu leugnen versuchte, und zwar vergeblich.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie in den leeren Flur. So leicht kamen ihr die Worte über die Lippen. Zu leicht.
Sie mahnte sich zur Besinnung. Du dummes Mädchen. Wie kannst du ihn lieben, wenn du ihn kaum kennst? Hast du denn nicht geglaubt, du würdest Georg lieben? Georg, mit dem du seit Kindertagen zusammen warst? Hast du nicht auch ihm versprochen, für immer bei ihm zu bleiben?
Georg ⦠Ja, sie hatte ihm Ãhnliches gesagt, es aber niemals so gemeint. Diesmal fühlte sich alles so viel anders an.
Sie dachte an Georg wie an einen guten Freund, der ihr über viele schlimme Zeiten hinweggeholfen hatte. Sie mochte ihn und würde ihn immer mögen. Finn dagegen ⦠Ihn liebte sie. Ja, ein Mädchen, das geglaubt hatte, nie so intensive Gefühle empfinden zu können, war in einen Mann verliebt, der nicht einmal ein Mensch war, sondern ein Metamorph. Ein Wesen, das sie mit ihrer Liebe früher oder später zerstören würde.
Empfand er dasselbe für sie? Alba hoffte für ihn, er täte es nicht. Hoffte mit ihrem Verstand, denn ihr Herz wünschte sich etwas anderes. Und würde er sie auch dann lieben, wenn er erfuhr, wie sie damals weggelaufen war, in der Gewissheit, er würde sterben? Lächerlich. Er würde sicherlich verstehen, wie viel Angst sie als kleines Mädchen gehabt haben musste. Dass sie damals nur einen Wunsch hatte, nämlich zu fliehen.
Aber was, wenn nicht? Die Vorstellung, er würde sich von ihr abwenden, war unerträglich.
Du hast sicherlich auch vor, es ihm bald zu beichten, höhnte eine Stimme in ihrem Kopf.
Ja, das hatte sie vorgehabt, doch dann war ihr aufgefallen, wie er auf den Rotmilan reagiert hatte. Was wäre denn passiert, wenn sie die alten Wunden aufgerissen hätte? Hätte er es verkraftet?
Sie rieb ihre Finger aneinander und dachte daran, wie sie seine vernarbte Haut gestreichelt hatte. Schrecklich sah diese aus. Alba musste sich überwinden, um ihn dort anzufassen. Nicht weil sie sich davor geekelt hätte, sondern weil sie glaubte, ihre Berührungen würden ihm wehtun. So, wie diese Berührungen sie in der Seele schmerzten und Bilder der Folter vor ihrem inneren Auge auferstehen lieÃen.
Nein, es war richtig, ihm nichts gesagt zu haben. Es würde ein passenderer Moment kommen, dann â¦
Ganz recht, spottete die Stimme. Sag ihm nichts. Warte, bis er es selbst herausfindet.
Alba stöhnte und vergrub die Finger in ihrem Haar.
Warum musste alles so kompliziert sein? Wieso durfte sie nicht einfach glücklich sein, zusammen mit Finn?
Weitere Kostenlose Bücher