Nachtseelen
gehäuteten Menschenschädeln, ein Rock aus abgeschlagenen Armen und ein Ohrgehänge aus einer vertrockneten Leiche.
» Maldita sea! « Adrián zerrte Alba mit sich und taumelte einige Schritte zurück. »Es ist eine Mächtige!«
»So ist es«, antwortete die Hexe, und der Klang der Worte erschütterte Alba, als spüre sie die Nachwirkung eines Erdbebens. Es erschütterte sie und brachte einen Hauch ihrer Gefühle wieder. Verlust. Trauer. Schmerz. Die Erkenntnis, die sie nicht hatte wahrhaben wollen, durchfuhr sie bis in die letzte Faser ihres Körpers.
Finn war gestorben. Finn war gestorben â und der Sinn dieser drei Worte erreichte endlich ihr Hirn.
Alba keuchte und sank vor ihm in die Knie. Nein, das konnte doch nicht wirklich sein. Warum? Warum wurde er ihr genommen, durch welches Vergehen? Was war so falsch daran, ihn zu lieben, dass sie dafür derart bestraft wurde?
Sie drückte seinen Oberkörper an sich. Was tust du da? , fragte das Quäntchen ihres Verstandes, das sie noch besaÃ. Du umarmst einen toten Mann ⦠Sie presste ihn noch fester an sich, während ihr Blick umherirrte, als suche sie nach Hilfe. Als könne es noch etwas geben, was ihr helfen würde.
Adrián indes behielt nur die Hexe im Auge. Noch wich er zurück, ohne wirklich davonkommen zu können, denn der Rauch lieà ihn nicht durch. »Warum bist du hier? Was willst du von uns?« Panik schwang in seiner
Stimme mit. So verstört hatte Alba ihren GroÃonkel noch nie erlebt, und seine Verzweiflung stärkte bloà die ihre. Die Schatten schienen nach ihr zu greifen, sie noch tiefer in die rauchigen Schwaden zu ziehen. Stück für Stück verlor sie ihr Selbst.
»Das Gebot âºDu sollst den Namen des Herr, deines Gottes, nicht missbrauchenâ¹ hat durchaus seine Berechtigung«, erklärte die Hexe. »Ein unbedacht fallengelassenes âºMein Gottâ¹ kann jede Mächtige in der Nähe dazu berechtigen, sich zu zeigen. Ich wünschte, ihr hättet früher nach mir gerufen. Dann hätte ich so vieles verhindern können!«
»Wir rufen nicht nach Hexen!«, schleuderte Adrián ihr entgegen. Voller Hass. Voller Verachtung. »Lass uns frei. Unsere Seelen bekommst du nicht.«
»Ich bin hier, um zu helfen.«
Helfen? Niemand kann mir helfen. Alba zwang sich, aufzublicken. »Wer bist du?«
Nicht die Hexe antwortete ihr, sondern Linnea, die durch die Schwaden trat. Die Schattenseelen stoben auseinander, lieÃen sie frei und schienen hinter ihrem Rücken zu tuscheln.
»Kali«, sagte die Metamorph-Königin. »Das ist doch dein Name, nicht wahr? Oder soll ich lieber ⦠Evelyn sagen?«
Evelyn. Kali. Alba dachte an das Arbeitszimmer ihres Opas, an den Altar und die Statue der indischen Göttin. Sie dachte an Hermanns zerfetzte Leiche, die sie entdecken musste, und an die Erinnerungen, die nicht
ihr gehörten, als Evelyn ihr die richtigen zurückgeben wollte.
Kali. Evelyn. Alba verstand.
Adrián tat es nicht. »Evelyn?«, hauchte er. Seine Stimme zitterte. »Nein! Das ist nicht wahr! Meine Evelyn ist tot, aber sie kommt wieder. Und wenn nicht, gehe ich selbst in das Schattenreich und hole sie zurück, das schwöre ich. Und keine Mächtige wird mich davon abhalten können.«
Alba tat es weh, ihn so verstört zu sehen. Gern hätte sie ihren GroÃonkel umarmt und getröstet, es ihm erklärt, auch wenn er sich vermutlich trotzdem weigern würde, es zu begreifen. So wie sie sich geweigert hatte, Finns Tod zu erkennen und ihn tief in ihrem Innern immer noch nicht akzeptierte.
Sie sah auf. Im Durchgang zur Waschküche erblickte sie eine junge Frau, die irritiert die Szene beobachtete. Etwas an dieser Frau, ob ihre Bewegungen oder die Statur, kam Alba bekannt vor. Zierlich und abgemagert war sie, mit langem, perlblondem Haar und einer Ratte auf der Schulter. Ylva! Das Rattenmädchen. Angezogen und gewaschen wirkte sie älter und reifer, ungefähr Anfang zwanzig, längst nicht mehr wie ein Kind.
Linnea strich sich über den Zopf, als würde sie ihre Schlange liebkosen. »Ach, das hat sie euch nicht verraten? Wie unangenehm. Einst hat sie sich Evelyns Körper genommen, und ihre Seelen sind verschmolzen. Deshalb handelt sie ab und zu menschlich. Deshalb kann sie lieben.« Die Königin maà Adrián mit einem
missbilligenden Blick. »Du hättest es früher
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