Nachtseelen
»Bitte, vergib mir!«
Linnea brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. In der nächsten Sekunde hielt sie die Frau in den Armen, presste den muskulösen Körper an sich, bis sie selbst kaum noch atmen konnte, und lauschte dem kräftigen Herzschlag, der ihr Mut machte. Die anderen zählten auf sie, vertrauten der Königin wie zuvor. »Ist schon gut. Am besten, du sagst niemandem, was du erlebt hast. Kein Wort über Hermann Herzhoff und die Umstände seines Todes. Es bleibt unter uns, verstanden?«
»Ich ⦠ich fürchte, ich habe es bereits verraten. Kilian war zu mir gekommen und â¦Â«
Das von Tränen nasse Gesicht drückte sich an Linneas Brust. Mein tapferes Mädchen , wollte sie rufen und ihr jeden Tropfen von den Wangen küssen. Ich bin froh, dass du noch lebst, dass du zu mir zurückgekommen bist. Nichts dergleichen tat sie. Denn sie war die Königin. Wenn sie Schwäche zeigte, dann schwächelte ihre Gemeinde. Wenn sie den Mut verlor, resignierten die anderen. Sie durfte ihre Gefühle nicht offenbaren, sondern musste diese in sich verschlieÃen, bis es nicht mehr ging, bis ihre Seele nichts weiter war als der Friedhof ihrer eigenen Empfindungen.
Linnea entlieà Micaela aus der Umarmung. »Kilian ist tot.« Du hast keinen Rivalen mehr. Jetzt bist du meine beste Jägerin. Wirst du versagen, wie er versagt hat?
»Oh.« Mehr kam nicht. Kein Wort des Gedenkens, keine Silbe des Mitleids für einen Mann, der seines Star-Daseins müde geworden war, der sich in die falsche Frau verliebt hatte und von der Liebe verraten wurde. Wenn Linnea an ihn dachte, dachte sie an sich selbst, denn sie waren gleich, der tote Jäger und seine Königin, für die das Leben nur ein Trug war. Konnte Micaela die Richtige sein, um an ihrer Seite zu bleiben? Sie brauchte einen Helfer, eine rechte Hand. Fast hätte sie Kilian an ihre Seite gerufen, ihn womöglich zu ihrem Partner erwählt und mit ihm das Lager geteilt, wenn es nötig gewesen wäre, doch er hatte sie verraten. Nun musste sie sich anders entscheiden. Zwar war Micaela bei ihrem letzten Auftrag gescheitert, aber sie war der Königin treu ergeben. Wirst du immer zu mir zurückkehren, mein Mädchen, egal, was geschieht? Wirst du mir überallhin folgen? Im Gesicht der Jägerin suchte sie nach einer Antwort. Aber die Infrarotfarben verrieten nicht, was in der Frau vorging.
Aus einem Eimer, der neben ihr stand, schöpfte Linnea Wasser und goss die Pflanzen auf dem Grab, die hoffentlich schön blühten.
»Ich habe eine Aufgabe für dich«, sagte sie, nachdem die Erde das Wasser aufgesogen hatte.
»Du verzeihst mir mein Versagen?«
»Das wird sich zeigen, wenn du die nächste Anweisung zu meiner Zufriedenheit ausführst.«
»Was muss ich tun?«, stieà Micaela hervor, noch bevor Linnea ihren Satz beenden konnte.
»Du weiÃt inzwischen, was vor kurzem passiert ist. Ich hatte sie beide in meiner Gewalt â die Mächtige und den Totenküsser, den zu befreien sie gekommen war. Und doch ist es ihnen gelungen, zu fliehen. Jemand aus unseren Reihen muss ihnen geholfen haben. Ich will wissen, wer das war.«
Sie konnte nahezu spüren, wie Micaela schmunzelte. Nein, die Jägerin war ganz und gar nicht wie Kilian, sondern stand tief unter dem Einfluss ihrer Königin.
»Darauf habe ich gehofft! Und ich habe es mir erlaubt, dir ein Geschenk mitzubringen. Darf ich?«
Linnea nickte.
Die Frau stand auf und ging. Nur ihre Katze blieb zurück, die sich unter einem Busch zusammenrollte und auf ihr Frauchen wartete. Linnea streckte eine Hand aus, um das Tier zu streicheln, aber es fauchte und begann, mit der Schwanzspitze zu schlagen. Typisch. Die Seelentiere tolerierten nur ungern fremde Berührungen, auch nicht die der Königin. Linneas Gedanken schweiften zu Akash, Kilians Wolfshund. Was mochte das Tier wohl nach dem Tod seines Herrchens treiben? Irgendwann würde er durchdrehen, und mit etwas Glück würden die Menschen sein Leben beenden, bevor er noch mehr leiden musste.
Micaela kehrte zurück, aber nicht allein. Sie schleifte ein Mädchen oder eine junge Frau herbei, die schluchzte und wie ein Tier winselte. Die Schwachsinnige. Linnea schloss den Mund, als der Gestank, den die Arme ausströmte, ihre Zunge reizte. Die Elende war seit vielen
Jahren in der Gemeinde und besaà den Verstand eines Kleinkindes. Sie tat
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