Nachtseelen
Spiegel an der Wand. Die Scherben splitterten und klirrten, verhieÃen sieben Jahre Unglück.
Vornübergebeugt hielt sich der Mann mit einer Hand an der Kommode fest und drückte sich die andere gegen die Stirn.
Renn! , befahl sie sich. Und rannte.
Der Weg zur Eingangstür war ihr versperrt, so stolperte sie Stufe um Stufe die Treppe hoch, schnaufend, als erklimme sie den Mount Everest. Im Obergeschoss angelangt, hielt sie sich am Geländer fest und lauschte eine Sekunde. Folgte der Mörder ihr? Nein. Noch nicht. Aber viel Zeit blieb ihr kaum â kein Grund, hier zu campen. An der Wand entlang torkelte sie zu einer der Türen und schlüpfte hinein.
Vor ihren Augen pulsierten rote Kreise. Alba brauchte
einen Moment, um die Umgebung zu registrieren. Sie befand sich in einem Arbeitszimmer, das eher einer Kammer ähnelte. Vor einem Fenster thronte ein billiger Tisch, der unter der Menge von Papierstapeln und Büchern zusammenzubrechen drohte. In einer Wandnische gegenüber war ein kleiner Altar errichtet worden. Auf einem Podest stand eine blauschwarze, vierarmige Statue mit wirrem, rabenschwarzem Haar. Die Augen blutunterlaufen, streckte sie weit ihre Zunge heraus. Um ihren Hals hing eine Kette aus Menschenschädeln, ein Rock aus abgeschlagenen Armen schlang sich um ihre Hüften. In einer Sandschale zu ihren FüÃen steckten Räucherstäbchen. Verwelkte Blumen, die keiner mehr austauschen konnte, schmückten den Altar.
An einer anderen Wand bemerkte Alba eine Holztruhe und schleifte sie zur Tür. Der Schweià lief ihr über das Gesicht, brannte ihr in den Augen und lieà ihr die Haarsträhnen an den Wangen kleben. Sie taumelte zurück und lehnte sich an den Schreibtisch. Ihre Beine fühlten sich weich an wie aus Wachs. Wer war dieser Kerl da unten? Und was ⦠was hatte er mit ihr gemacht? Der Kuss hatte sich angefühlt, als hätte sie mit dem Gevatter Tod persönlich geknutscht.
Sie schüttelte sich und stieà versehentlich mit dem Ellbogen einen der Stapel vom Tisch. Dieselbe krakelige Schrift wie in dem Brief zog ihre Aufmerksamkeit auf sich: Ich werde ins Auge der Schwarzen Göttin sehen, und ich hoffe, ich werde sie verstehen, denn nur dann wird sie mich vor Furcht befreien und mein Flehen erhören . Ãhnlich
unverständliche Worte. Wenn sie bloà wüsste, was all das zu bedeuten hatte! Mit der Schuhspitze fächerte sie die Papiere auseinander. Alle Notizen, Zitate und Gebete â einige davon in einer Sprache, die sie nicht verstand â beschäftigten sich mit Kali. Hatte ihr GroÃvater die indische Göttin verehrt?
Ihre Ãberlegungen verflogen, als sie vom Flur Schritte hörte. Der Mörder! Er war ihr auf den Fersen, wie hatte sie das vergessen können und sich ausruhen wollen!
Im Stockwerk ging eine Tür nach der anderen. Der Mann kam näher. Dann knallte die Tür des Arbeitszimmers gegen die Truhe. Durch den Spalt schaute Alba in die Augen ihres Verfolgers. Tiefschwarz. Rasend. Todbringend. Nur mit Mühe riss sie sich von seinem Blick los und sah sich um. Das Fenster, kaum gröÃer als ein Bullauge, stierte ihr wie ein lebendiges Wesen entgegen. Dahinter ragten die Ãste eines Obstbaumes bis an die Hauswand heran. Ob die Zweige sie tragen würden? Was sollâs! Sie hatte keine Wahl.
Alba hastete zum Fenster und machte es auf. Der Wind lieà den Schweià auf ihrer Haut erkalten. Einen Moment haderte sie mit sich selbst â die Höhe löste ein flaues Gefühl in ihrem Magen aus. Sie unterdrückte die Zweifel und zwängte sich nach drauÃen. Ein kurzes Innehalten, dann hechtete sie nach vorn.
Ihre Hände verfehlten den Ast, den sie anvisiert hatte, und sie stürzte. Die Zweige peitschten und zerkratzten ihr Gesicht, dann bekamen ihre Finger etwas zu fassen. Der Fall endete, sie federte an einem Ast auf und ab und
baumelte daran wie eine Frucht. Dann hangelte sie sich zum Baumstamm und fand mit den FüÃen Halt. Glück gehabt. Die Wange an die Rinde gedrückt, wagte sie es nicht, sich zu rühren. Aber noch war die Gefahr nicht gebannt. Der Mörder würde sie nicht einfach so gehen lassen. Sie musste sich in Sicherheit bringen.
Alba kletterte hinunter. Einige Ãste knackten unter ihrem Gewicht weg, und sie erwartete jeden Moment, auf dem Boden aufzuschlagen, doch jedes Mal gelang es ihr, eine Stütze zu finden. Als sie endlich ins Gras sprang,
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