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Nachtseelen

Titel: Nachtseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krouk Olga
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sein zu können.
    Erst nach einer Weile fand sie die Kraft, sich von dem Grab abzuwenden, und … erschrak. Eine Frau stand hinter ihr. Eine warme Hülle mit einem kalten Inneren. Nicht menschlichen Ursprungs!, schrien ihre Sinne. Weder tot noch lebendig. Wie war es möglich, dass sie nicht bemerkt hatte, wie die Fremde gekommen war?
    Die Unbekannte spielte an einer Perlenkette. Auch durch das Hörgerät vernahm Linnea das Ratschen der Fingernägel an den Kügelchen, das ihr eine Gänsehaut bereitete.
    Â»Du hast mich gerufen, wenn auch unbewusst. Nun ja. Hier bin ich.«
    Linnea zögerte. »Ich – dich gerufen? Wer bist du?«, brachte sie endlich hervor.
    Â»Diejenige, die dir helfen wird, Rache zu nehmen.« Die Unbekannte vollführte eine Geste. Ein Windstoß
schlug Linnea ins Gesicht und wirbelte ihr Haar auf. Er brachte Hitze und den Geruch nach Savanne mit sich. »Ich werde dir ein Angebot unterbreiten, das du unmöglich ausschlagen kannst.«
    Gütiger, sie stand einer Mächtigen gegenüber! Einer Mächtigen, die ihr so anders als Evelyn erschien. Mit einem Mal wurde ihr Mund trocken und seltsam staubig. In einem hatte die Frau Recht: Egal, was sie gleich vorschlagen würde, niemand sagte Nein zu einer Hexe. Niemand kam heil aus einem Deal mit einer Mächtigen heraus.
    Â»Du brauchst keine Angst zu haben. Würde ich dich töten wollen, meinst du nicht, ich hätte es bereits veranlasst?« Die Stimme klang kehlig und war von Wärme erfüllt. So sprach eine Mutter zu ihrem Kind, wenn sie es ins Bett brachte, und genau diese Herzlichkeit versetzte Linnea in Panik. Eine Hexe, eine Mächtige, war niemals herzlich.
    Â»Hast du dich nicht kürzlich gefragt, zu welcher Gottheit du beten musst, um deine Feinde in die Knie zu zwingen?«, fuhr diese fort. »Wie wäre es mit mir? Aber erlaube mir erstmal, mich vorzustellen. Ich bin Oya. Die Zerreißerin.«

Kapitel 4
    F inn stand vor der Haustür und suchte die Taschen seiner Jacke nach dem Schlüsselbund ab. Der Nieselregen verklebte sein Haar und sickerte durch ein Loch in seine Jacke. Nach der Hitze der letzten Tage freuten sich einige Menschen vielleicht über den Wetterumschwung. Die anderen sich sicher weniger. Finn beachtete das Wetter kaum, sondern hakte diesen Tag in Gedanken ab. Überstanden. Morgen kämen neue Sorgen, neue Gefahren, aber für heute war alles verdrängt. Er musste an nichts mehr denken. Er blieb allein mit sich selbst, und Hand aufs Herz: Es handelte sich um keine allzu schlechte Gesellschaft in Anbetracht dessen, wo er sich in seinem Leben bereits herumgetrieben hatte.
    Vom Himmel sank eine Vogelsilhouette herab und setzte sich auf einen Baum. Finn zuckte zusammen, als er das Flattern hörte. In seinem Nacken kribbelte es – ein scheußliches Gefühl, als würden ihm Spinnen in den Kragen kriechen. Bleib ruhig!, befahl er sich und schlug die Zähne in die Unterlippe. Kein Grund, wegen jedes Spatzen auszuflippen. Zugegeben, der vermeintliche Spatz hatte die Größe einer Katze, aber solange das Federvieh ihm vom Leib blieb, hatte er sich noch unter
Kontrolle. Allerdings handelte es sich hier um ein besonders hartnäckiges Exemplar. Unwillkürlich sah er sich um.
    Links erstreckte sich ein langer, stufenförmiger Plattenbau, mit dessen Form der Architekt höchstwahrscheinlich dem Klischeebild eines Ghettos etwas entgegensetzen wollte. Finn selbst hauste in einem vierstöckigen Gebäude aus braunrotem Backstein, kaum einen kräftigen Steinwurf davon entfernt. Jedes Mal, wenn er nach draußen ging, fühlte er sich von dem Plattenbau erdrückt und bekam beinahe klaustrophobische Anfälle. In einigen Fenstern brannte Licht, die anderen gähnten mit schwarzen Mündern in den Abend. Osdorfer Born, der soziale Brennpunkt Hamburgs. In diese Siedlung verschlug es meistens nur diejenigen, die sich sonst höchstens einen Karton unter einer Brücke leisten konnten. In einigen Jahren könnte es hier noch richtig knallen, wenn die Sozialförderung auslief und die Wohnungen auf den freien Markt wanderten. Finn gruselte es vor diesem Tag. Wie der Großteil der Mieter hier würde er das Geld nicht aufbringen können. Was in seinem Fall bedeutete: Grüß dich, Karton. Die von Kühlschränken sollten recht bequem sein.
    Wieder das Flattern. Diesmal sauste der Rotmilan dicht an seinem Kopf vorbei. Finn fuhr

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