Nachtseelen
waren ihre Hände abgeschürft und das Sommerkleid aufgerissen. Ein Fetzen hatte sich in den Zweigen verfangen, als wollte der Baum sie nicht gehen lassen.
Alba schleppte sich zum Auto und plumpste auf den Fahrersitz. Zum Glück hatte sie nicht weit vom Haus geparkt. Mit zitternden Händen steckte sie den Schlüssel in das Zündschloss und startete den Motor.
Ihr Verfolger lief auf die StraÃe hinaus. Noch hatte er sie nicht entdeckt. Alba trat auf das Gaspedal. Die Reifen drehten durch und quietschten, sie löste die Handbremse und raste auf den Mann zu. Er fuhr herum. Noch eine Sekunde, und die StoÃstange hätte ihn gerammt, als etwas Unglaubliches geschah. Er sprang hoch. Der Wagen flitzte unter ihm vorbei, während er in der Luft zu schweben schien. Im Rückspiegel sah sie, wie der Mann wieder auf dem Asphalt landete, zu Boden ging, ein Stück weiterrollte und am Bürgersteig liegen blieb.
Wie war das möglich? , pulsierte es in Albas Kopf. Kein Stuntman hätte so einen Trick vollführen können!
Doch zurückzufahren und ihn zu fragen gehörte sicherlich nicht zu den besten Ideen. Alba raste um die Ecke und jagte ihre Corvette durch die StraÃen, bis sie den Bezirk verlassen hatte.
Die Anspannung wich und mit ihr der letzte Funke Energie. Auf der Windschutzscheibe tanzten weiÃe Punkte. Alle Umrisse verflossen ineinander. Alba schloss die Augen und fiel ins schwarze Nichts, während ihr Fuà noch das Gaspedal drückte.
Kapitel 3
L innea hockte vor dem Grabstein und lockerte die Erde auf, die blau leuchtete. Ihre Hände strahlten in Safrantönen, der Stiel der Harke, wenn sie ihn beiseitelegte, glühte von einem schwachen Gelb bis hin zu Grün â ein Karneval der Farben, den ihre Sinne drogenfrei mischten. So war es, das Universum um sie herum, das glühte und strahlte und leuchtete, sich beim Anfassen jedoch kalt und tot anfühlte wie die Erde, die sie zwischen den Fingern zerrieb.
Das Augenlicht hatte sie vor langer Zeit verloren, zusammen mit einem groÃen Teil ihres Gehörs. Nach und nach waren die Fähigkeiten verschwunden, so wie der Herbst das blühende Leben langsam in Trostlosigkeit verwandelt. Bei einigen ging es schneller, bei den anderen langsamer. An die Monate der völligen Dunkelheit erinnerte sie sich mit Schaudern. In ihrer Verzweiflung hatte sie sich damals in ihrer Wohnung verkrochen und nichts von der Welt drauÃen wissen wollen. Nur die treue Smaragda, ihr Seelentier, dem Linnea ihr Unglück zu verdanken hatte, blieb bei ihr. Einige Wochen danach begann die Welt der Schwärze sich zu lichten. Zuerst schwach, dann leuchteten die Farben in all ihrer
Pracht auf. Infrarotsicht. Ihr Gehirn gaukelte ihr vor, sie würde sehen. In Wirklichkeit verarbeitete sie die Informationen auf eine ganz andere Weise, denn auch wenn sie die Augen geschlossen hielt, schimmerten die Farben vor ihr, Tag und Nacht, und quälten sie mit ihrer bunten Fröhlichkeit.
Dank des Hörgerätes befand sie sich nicht in vollkommener Stille. Auch hier, in einem abgeschiedenen Winkel des Altonaer Hauptfriedhofes, wie in einem Labyrinth von immergrünen Büschen umgeben, vernahm sie aus weiter Ferne den StraÃenlärm â Autos und schwere LKWs, manchmal einen Krankenwagen oder das Brummen eines Flugzeugs. Der Wind spielte mit ihrem hüftlangen Haar, und sie streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen, um die Wärme mit jeder Pore in sich aufzusaugen. Die Sonne, das einzig Wahre, das in dieser Totenwelt lebte, spendete ihr Kraft zum Weitermachen, Weiterexistieren, Weiterkämpfen.
Das leise Vogelgezwitscher schien den Toten Respekt zu zollen. Linnea mochte es, über die verschlungenen Pfade des Friedhofes zu schlendern, weit entfernt von den geteerten, ordentlich und gerade angelegten Hauptwegen. In der groÃen Anlage fühlte sie sich oft etwas verloren, und wenn sie hin und wieder über eine knorrige Baumrinde streichelte, wurde sie gewahr, wie alt diese Stämme sein mussten. Die Ruhe, die von dem Friedhof ausging, kehrte auch in Linneas Seele ein. Die Erinnerungen an die unzähligen Bahren mit zerfetzten Leibern, die aus den Gemäuern des ehemaligen Pesthofes
an ihr vorbei hinausgetragen worden waren, ebbten an diesem Ort des Friedens ab. Dennoch dachte sie mit Wehmut an das Geschehene. An all die Verluste! Ihre Gemeinde, für die Linnea ihr eigenes Leben geopfert hätte, für die sie unerbittlich
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