Nachtseelen
kämpfte, um sie zu erweitern, war auf zwei Dutzend Personen geschrumpft. Zwei Dutzend Metamorphe, die kaum noch sich selbst schützen konnten. Geschweige denn das Ziel erreichen, das sie bereits so lange verfolgten. Und sie war schuld. Sie allein, weil sie ihren Feind unterschätzt hatte.
Linnea streckte sich auf dem blau strahlenden Boden aus. Welche Farbe hatte eigentlich die Schuld? Wie leuchteten ihre Wut und Verzweiflung? Wie heià glühte der Name, der ihr wie ein Brandeisen die Zunge versengte, sobald sie ihn in den Mund nahm?
Evelyn. Evelyn Behrens.
Sie ballte die Fäuste.
»Das wird mir nicht noch einmal passieren«, versprach sie dem Grabstein. »Und die Niederlage wird nicht ungerächt bleiben. Eine Schlacht mag verloren sein, der Krieg â noch lange nicht!«
Doch was konnte sie tun, wohl wissend, über welche Kräfte ihre Erzfeindin verfügte? Die Wut machte der Mutlosigkeit Platz. Noch mehr schmerzte, dass es sich dabei um ihre Tochter, ihr eigenes Fleisch und Blut handelte. Sie hätte sie schon als Baby vernichten sollen, und â Hand aufs Herz â hatte sie nicht alles getan, um dies zu bewerkstelligen? Aber das Schicksal schien sich gegen sie verschworen zu haben. Zu welcher Gottheit
sollte sie beten, wie die nötige Kraft erlangen, um ihre Feinde zu vernichten und ihre Gemeinde zu beschützen? Und das, solange es noch etwas zu beschützen gab.
»Oh Gott, ich brauche Hilfe. Hilfe, um eine Mächtige zu besiegen.« Aber wer sollte ihr schon helfen? Linnea vergrub die Finger in der Erde, nahm eine Handvoll und roch daran. Der Duft betörte ihre Sinne. Wenn sie könnte, hätte sie sich hingelegt und sich durch den feuchten Dreck geschlängelt. Sie bändigte den irrsinnigen Wunsch, zerrieb die Erde zwischen den Handflächen und züngelte, um sie zu riechen, ja, gar zu schmecken. Endlich ging es ihr besser. Der Kopf fühlte sich klarer an und die Selbstsicherheit kehrte zurück.
Sie würde es schaffen, egal, welchen Preis sie dafür zahlen müsste. Ja, unbedingt! SchlieÃlich war sie eine Königin. Linnea schob ihre Hand unter ihr Haar und berührte den Stummel, wo früher ihr linkes Ohr gewesen war. Sie hatte schon Schlimmeres überstanden. Es würde der Tag kommen, an dem sie zurückschlagen und ihre Feinde vernichten würde.
»Darauf kannst du Gift nehmen, Evelyn«, flüsterte sie und ballte die Hände. Bloà nicht aufgeben. Wer nicht kämpfte, der hatte bereits verloren. »Du wirst es mir büÃen. Den Tod jedes Einzelnen, den du mir genommen hast.«
Die Worte scheuerten ihre Seele wund und erweckten den Schmerz, den sie verdrängt zu haben glaubte. Wenn jemand aus ihrer Gemeinde starb, dann spürte sie seine
Qualen wie die eigenen, nur dass die ewige Ruhe ihr nicht vergönnt war. In jener Nacht wäre sie fast wahnsinnig geworden, sooft der Tod ihrer Untertanen ein Stückchen von ihr mit sich riss.
Sie vernahm Schritte, die sich ihr näherten, spürte die Erschütterung des Bodens. Nicht einmal der leiseste Tritt entging ihr. Ohne sich umzudrehen, wusste sie sofort, wer sich den Sandweg entlangstahl. Sie kannte den Gang jedes Einzelnen aus ihrer Gemeinde.
»Micaela. Ich hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, dich irgendwann zu sehen.«
Die Antwort kam nicht sofort. »Verzeih mir, meine Königin. Ich habe dich enttäuscht.«
»Enttäuscht?« Linnea drehte den Kopf und betrachtete das orangefarbene Leuchten der schlanken, hochgewachsenen Frau, an deren Beine sich eine Katze schmiegte â ein groÃes und starkes Tier. »Das Blut unserer Brüder und Schwestern klebt auch an deinen Händen. Nur eine Warnung von dir, womit wir es wirklich zu tun hatten, und das Blutbad hätte vermieden werden können!«
Es fiel ihr schwer, den Zorn zu unterdrücken. Den Zorn, der in erster Linie ihr selbst galt. Denn Micaela traf keine Schuld. Linnea verspürte sogar Erleichterung darüber, dass die Jägerin noch lebte. Es war klug von ihr gewesen, sich zurückzuziehen und abzuwarten, denn was hätte sie allein gegen eine Mächtige unternehmen können, wenn in dem Kampf die ganze Gemeinde versagt hatte!
Micaela kniete nieder und senkte den Kopf. »Als ich
die Macht der Hexe sah, musste ich fliehen. Ich hatte befürchtet, sie würde mich verfolgen. Ich wollte keine Gefahr für die anderen sein.« Sie faltete die Hände.
Weitere Kostenlose Bücher