Nachtseelen
nichts anderes, als mit ihrer Ratte durch die Gewölbe des Pesthofes zu streifen und sich vor jedem zu verstecken. Manchmal verschwand sie tage- oder wochenlang, und niemand wusste, wo sie sich herumtrieb. Im Grunde interessierte es auch keinen. Man munkelte, sie ernähre sich von Mäusen und Kakerlaken, die sie im Untergrund fing.
»Nimm dieses Wesen von mir weg.« Es widerte Linnea an, dieses Ding auch nur in der Nähe zu wissen. Es führte ihr vor Augen, dass ihre Rasse ganz und gar nicht perfekt und stark war. Früher oder später endete jeder von ihnen so. Oder schlimmer.
»Sie kennt den Verräter«, sagte Micaela, zog aber die junge Frau dennoch ein Stück zurück. »Kurz nach dem Angriff wurde sie in dem Gang gesehen, durch den der Totenküsser geflohen war. Sie soll dort etwas gefunden haben.«
»Aha?«
»Sie weià alles, was in den Gemäuern passiert. Wenn der Pesthof eine Seele hat, dann ist sie deren Manifestation.«
Linnea musterte die rot-orangefarbenen Umrisse des Mädchens und des Seelentieres, das in seinem Schoà kauerte. Als sie in ihrer Anfangszeit in Hamburg nach einem Unterschlupf für ihre Gemeinde gesucht hatte, wo sie ungestört ihrer Lebensaufgabe nachkommen konnten, war sie auf den Pesthof aufmerksam geworden. Das Elend, das die alten Schriften des Hamburger
Staatsarchivs beschrieben, hatte sie fasziniert: Von mehr als 800 » Kranken, Tollen und Sinnlosen « bevölkert, dicht aneinandergedrängt oder in die Tollkolben eingesperrt, war es ein Ort des Grauens gewesen. Anfang des 17. Jahrhunderts war die Anstalt errichtet und zwei Jahrhunderte später durch die französische Armee niedergebrannt worden, doch im Gebiet der heutigen AnnenstraÃe fand man in den Kellern mancher Häuser noch die alten Gewölbe. Geheimgänge vom Hafen und der St.-Michaelis-Kirche führten zu den Gemäuern, so hieà es. Für Linnea und ihre Untertanen war es ein Leichtes gewesen, diese aufzuspüren und die Katakomben für sich zu gewinnen. In den Jahren danach hatte sie die Gewölbe vom Schutt befreit, renoviert und sogar erweitert. Und alles im Geheimen unter dem berühmt-berüchtigtsten Viertel Hamburgs â St. Pauli mit seiner Roten Meile. Die Menschenbrut hatte nichts davon mitbekommen, wie in den alten Baurelikten das Elend des Vergangenen ein neues Zeitalter erlebte.
Linnea beugte sich zu der jungen Frau. Die Seele des Pesthofes? Wie treffend. Was sonst könnte man als solche bezeichnen, wenn nicht diese jämmerliche Gestalt, die zu ihren FüÃen im Dreck kauerte?
»Ich höre?«, forderte sie.
Die Schwachsinnige schüttelte den Kopf, murmelte etwas und zupfte an den Lumpen, die ihren knochigen Leib bedeckten.
»Bring sie zum Reden!«
Micaela erhob ruckartig die Hand, verharrte, dem Befehl sichtlich widerstrebend, und lieà sie hinuntersausen. Eine schallende Ohrfeige ertönte. »So ein verstocktes Gör!«
Die Schwachsinnige krümmte den Rücken, presste die Hände unter den Lumpen zusammen und wimmerte. Die Ratte fauchte und wollte die Peinigerin beiÃen, da schoss die Katze auf das Tier zu und drückte es gegen die Erde, die Zähne an seine Kehle angesetzt. Der Nager wand sich unter ihren Pfoten, konnte sich aber aus den Krallen nicht befreien.
Linnea unterdrückte ihre Abscheu, packte das Mädchen an den Schultern und drückte es an sich, so wie sie kurz davor Micaela gedrückt hatte.
»Du willst doch deine Königin glücklich machen, nicht wahr, meine SüÃe?«, raunte sie der Schwachsinnigen ins Ohr und registrierte zufrieden, wie das Balg ihren Duft einatmete. Gut so. Keiner konnte sich dieser Waffe entziehen, und wenn doch, dann war das ein langwieriger Kampf mit den Instinkten aus der Urzeit eines jeden Metamorphen. Nur die wenigsten konnten ihn austragen. »Sag mir den Namen des Verräters«, flüsterte sie weiter auf das Mädchen ein, dessen Körper in ihrem Griff erschlaffte. »Sag ihn mir, und du kannst gehen. Zurück in den Untergrund. Das möchtest du doch, oder?«
Zähne bohrten sich in ihr rechtes Ohr. Linnea schrie auf und stieà die Elende von sich.
»Das Gör hat mich gebissen!« Mit den Fingern fuhr
sie sich unter das Haar und ertastete etwas Blut. Wie war es möglich, dass diese Kreatur sich ihrer Macht widersetzen konnte?
Linnea ohrfeigte das Balg. Es versuchte, von ihr wegzukriechen,
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