Nachtseelen
herum und ballte die Fäuste.
»Macht es dir SpaÃ, du verdammtes Vieh?«, brüllte er durch die Nacht, schrie sich die Lunge aus dem Leib.
Der Vogel lieà sich auf einem Balkon über ihm nieder
und schüttelte die Federn auf. Ein Klecks Kot platschte auf Finns Schulter.
»Ich hasse dich.« Zum Wüten fehlte ihm plötzlich die Kraft. »Wenn ich dich in die Finger kriege, wird am Wochenende gegrillt. Also treib es nicht zu weit.« Sicherheitshalber machte er einen Schritt von dem Balkon weg und konnte in seinem kribbelnden Nacken fast spüren, wie der Vogel triumphierte.
Er schüttelte sich. Die Nässe biss sich langsam durch die Kleidungsschichten und drang ihm in die Knochen. Wo blieb der verfluchte Schlüssel?
Er klopfte noch einmal die Jacke ab und vernahm ein Klimpern. Der Schlüsselbund war durch ein Loch in einer der Taschen in das Futter geschlüpft. Nach einer komplizierten Bergungsoperation hielt Finn ihn in der Hand. Gleich darauf musste er feststellen, dass er ihn gar nicht gebraucht hätte: Das Schloss der Eingangstür war wieder einmal kaputt.
Er flüchtete vor dem Regen in das Gebäudeinnere â in Wirklichkeit floh er vor seinem gefiederten Verfolger â und stieà mit einem Mann zusammen, der ihn, aus welchem Grund auch immer, feindselig anschaute und dann ins Freie huschte. Ein säuerlicher Geruch schlug ihm in die Nase, und im zweiten Stock musste er eine Pfütze mit Erbrochenem umschiffen, von der ein grauschwarzer Rüde fraÃ. Durch das Treppenhaus schallte das Grölen eines Betrunkenen â Günther, der in seiner leeren Wohnung hauste und Schnaps in den Napf seines Hundes schüttete, um nicht allein trinken zu müssen.
Wann immer Finn resignierte, rief er sich Günthers Bild ins Gedächtnis: Solange er nicht wie der Nachbar aus einer Hundeschüssel Alkohol leckte, ging das Leben weiter. Irgendwie.
Finn seufzte, während er die Stufen zum obersten Stock erklomm. In der Mitte des letzten Treppenabschnittes blieb er stehen. Die Beleuchtung auf seiner Etage war ausgefallen, so hatte er nicht sofort begriffen, was da vor seiner Tür lag. Es sah wie ein Bündel Lumpen aus, zumindest dachte er das, bis dieses sich zu regen begann.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch bezwang Finn die restlichen Stufen, während die imaginäre Last auf seinen Schultern ihn gen Boden zwang. Bleib ruhig, bleib ruhig , beschwor er sich und ertappte sich dabei, wie er die Worte wie ein Mantra flüsterte. Nach den Ereignissen im Pesthof erwartete er in jeder dunklen Ecke eine Horde Metamorphe, die nur darauf wartete, sich auf ihn zu stürzen. Oder Totenküsser, die es nach seiner Lebenskraft dürstete.
Die Silhouette, die auf seinem FuÃabtreter kauerte, ähnelte nur entfernt einem menschlichen Wesen. Doch es war eines. Eine junge Frau â beinahe ein Mädchen -, in Lumpen und einen Fetzen gehüllt, der im früheren Leben ein Kleid gewesen sein mochte. Ihre nackten Beine, dürr wie Streichhölzer, steckten in rosafarbenen Gummistiefeln. Das verfilzte Haar verdeckte ihr Gesicht, aus dem die Wangenknochen hervorstachen. Finn schätzte sie auf achtzehn oder neunzehn, in den Lumpen
sah sie aber kaum wie fünfzehn aus. Vermutlich lagen beide Schätzungen daneben, und sie war älter, als sie wirkte. Oder noch jünger.
Finn musterte das Mädchen wie ein Wesen aus einem anderen Universum.
»Ylvi?« Er machte ihr einen Schritt entgegen. Sie stieà einen Laut hervor, der sich wie ein Fauchen anhörte, und verdrückte sich in eine Ecke. Umso mehr ähnelte sie einem Tier, das sich in die Enge getrieben sah. Aus den Tiefen ihrer Lumpen kroch eine Ratte auf ihre Schulter. Die Nase des Tieres zuckte aufgeregt, als es sich auf die Hinterbeine stellte und schnupperte.
Was ging hier vor? Diese junge Frau an seiner Tür vorzufinden stand auf der Wahrscheinlichkeitsliste direkt nach der Möglichkeit, von AuÃerirdischen entführt zu werden. Die Kleine gehörte zum Pesthof wie die Staus zum Elbtunnel. Niemals hätte er es für möglich gehalten, Ylva woanders anzutreffen. Und doch kauerte sie hier, vor seiner Tür.
In Wirklichkeit kannte er ihren Namen nicht. Finn bezweifelte sogar, dass den überhaupt jemand kannte, das Mädchen eingeschlossen. Aber er nannte sie so seit ihrer ersten Begegnung, weil er in ihr schon längst eine treue Gefährtin sah und dabei stets an
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