Nachtseelen
was? Je weiter er zögerte, desto zorniger wurde sie, zischte und fauchte ihn an.
»Ylvi, ich verstehe nicht, was du von mir willst«, rief er verzweifelt aus.
Sie verstummte und sah ihn mit ihren klaren, groÃen Augen an. Dieser Blick erschütterte ihn mehr, als alle
Aktionen zuvor. Es war kein Blick einer Wahnsinnigen, sondern â¦
Das Zufallen der Haustür im Erdgeschoss unterbrach seine Gedanken. Undeutlich hörte Finn Schritte; seit er die Verbindung zu seinem Seelentier aufgebaut hatte, schien sich sein Gehör stetig zu verschlechtern. Sofort erklang das wütende Bellen des Hundes.
Die Geräusche verwandelten Ylva in eine Furie. Sie stürzte sich auf Finn. Im ersten Moment dachte er, sie würde ihm die Augen auskratzen, und duckte sich instinktiv, aber sie packte ihn an seinem Gürtel und rüttelte an der Schnalle.
»Stopp, stopp, stopp!«, rief Finn und taumelte zurück. »Das geht eindeutig zu weit.«
Seine Finger fuhren über das Metall â es war eine instinktive Bewegung, denn seinen Glücksbringer hatte er verloren.
Die Schritte im Treppenhaus kamen näher. Ylva gab auf, ihm irgendetwas mitteilen zu wollen. Sie nahm den Wasserkocher vom Herd und schmetterte ihn gegen das Fenster. Klirrend prasselten die Splitter auf die StraÃe. Bevor Finn auch nur einen Mucks von sich geben konnte, kletterte sie nach drauÃen. Die Scherben, die noch im Rahmen steckten, schlitzten ihr am Rücken die Kleidung auf, die ihr fast von den Schultern rutschte, und ritzten ihre Haut. Sie schenkte all dem keine Beachtung. In wenigen Sekunden war sie verschwunden. Die Ratte huschte ihr hinterher.
Finn hielt inne und glaubte auf der StraÃe das dumpfe
Aufschlagen eines Körpers zu vernehmen. Oder bildete er sich das nur ein?
Die Tür zu seiner Wohnung öffnete sich. Aus der Küche sah Finn, wie sich eine giftgrüne Schlange in das Zimmer schlängelte und hinter ihr Linnea hereinkam. Ihm wurde heià und kalt zugleich. Aus welchem Grund suchte die Königin ihn auf? In den Tagen nach dem Angriff war er ihr aus dem Weg gegangen, in der Befürchtung, sie würde merken, welche Rolle er bei der Flucht der Gefangenen gespielt hatte. Zum Glück schenkte sie dem Grünschnabel keine Beachtung. Bisher.
Die Schlange kroch auf ihn zu. Das Schaben der Schuppen auf den Fliesen lieà ihn erschaudern. Finn wich bis zu dem zerbrochenen Fenster zurück und wagte einen Blick nach drauÃen. Ylva lebte! Wie ein Ãffchen kletterte sie an der Regenrinne entlang, sprang schlieÃlich hinunter und verschwand aus seiner Sicht. Er überlegte, ihr zu folgen, bezweifelte jedoch, dasselbe Geschick zu besitzen, um entkommen zu können.
Linnea blieb auf der Schwelle zur Küche stehen, streckte ihre Arme aus und fuhr mit den Fingern über das Holz des Türrahmens. Ein teures Kostüm schmeichelte ihrer Figur, das Haar trug sie offen, und die hüftlangen Strähnen ähnelten auch im schalen Licht einem bronzefarbenen Wasserfall. Ein schönes, junges Mädchen in den Augen eines Ahnungslosen. Doch Finn wusste es besser. Ihre Jugend trog, ihre Güte lockte in eine Falle, aus der es kein Entkommen gab. Zumindest nicht für Kilian und vermutlich auch nicht für ihn.
»Frisch hast du es hier.« Sie lispelte, was den Eindruck erweckte, als ob nicht sie, sondern die Schlange zu ihm gesprochen hätte.
»Ich lüfte gerade.« Aus dem Augenwinkel beobachtete er das Reptil, das ihn in Schach hielt. Sobald er sich auch nur rührte, brachte es den Körper in eine Angriffsposition, bereit, die Giftzähne in sein Fleisch zu stoÃen.
»Schlägst du dafür immer die Fenster ein?«
»Es war ein Versehen.«
»So, so. WeiÃt du, ich habe das Gefühl, du entziehst dich der Gemeinde.« Sie machte einen Schritt nach vorn, trat mit der bloÃen FuÃsohle in die Milchpfütze und verzog das Gesicht. »Igitt, was ist das? Wieder so ein Versehen?«
»Ich bin heute etwas ungeschickt.«
Linnea umging die Pfütze und kam auf ihn zu. »Ich kann spüren, irgendetwas beschäftigt dich. Was ist los?« Sie führte die Hände unter seine Jacke und streifte sie ihm von den Schultern. Knopf um Knopf öffnete sie sein Hemd und legte die kalten Finger um seinen Hals.
Verrückt. Sie würde ihn gleich erwürgen oder ihm wie Kilian den Hals umdrehen, und er machte sich Gedanken darüber, ob es ihr nicht
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