Nachtseelen
die Wickie-Kinderserie denken musste. Ihr Haar schien unter all dem Schmutz perlfarben zu schimmern und bildete einen drastischen Kontrast zu ihrer wesentlich dunkleren Haut. Sie hatte den Verstand verloren, so hieà es, als sie ihr Seelentier gefunden hatte und nicht imstande war,
die Verbindungen zu kontrollieren. In den unzähligen Verschmelzungen ihres Geistes mit dem des Tieres wurde aus zwei Seelen eine, was das Mädchen auf die Stufe eines Neandertalers geworfen hatte. Vielleicht stimmte diese Vermutung, vielleicht auch nicht. Den wahren Grund ihrer geistigen Umnachtung kannte keiner. Die anderen in der Gemeinde machten es zu einem Sport, die Arme zu jagen und sie als Zielscheibe für alles, was ihnen zur Hand kam, zu benutzen. Ein Treffer ins Gesicht bedeutete zehn Punkte.
Finn verabscheute diese Grausamkeit. Er verabscheute die gesamte Gemeinde, die Unterdrückung und die Gewalt, die dort herrschten. Und er verabscheute sich selbst, weil er nie den Mut gefunden hatte, sich dagegen aufzulehnen.
Verzeih mir meine Feigheit , hätte er gern zu Ylva gesagt, wenn sie ihn verstehen könnte und wenn seine Worte ihr etwas bedeuten würden. Aber sie drängte sich in eine Ecke und knurrte wie ein Tier. In ihr sah er seine Zukunft. Wenn er jetzt aus der Gemeinde fortging, würde er genauso enden wie sie, ohne imstande zu sein, sein Erbe â oder besser gesagt: seinen Fluch â unter Kontrolle zu halten.
Finn hockte sich hin und streckte seine Hand aus. »Ylvi, was tust du hier?«
Und vor allem: Wie hast du mich gefunden? Die Frage lag ihm auf der Zunge, aber er wollte sie nicht damit bestürmen. Die Kleine fauchte und schlug nach ihm. Ihre Fingernägel kratzten seine Haut auf.
»Schon gut, schon gut. Ich werde dir nicht zu nahe kommen«, fügte er eilig hinzu und brachte sich wieder auf Abstand zu ihr. »Ist es besser so?«
Sie verlor keinen Ton, so deutete er das als ein Ja. Für weitere Versuche, sie zu befragen, strafte sie ihn mit Schweigen. SchlieÃlich kapitulierte Finn und sperrte die Tür auf. »Ich werde jetzt reingehen. Wenn du willst, kannst du mitkommen. Okay? Ich lasse die Tür offen. Abgemacht?«
Vermutlich verstand sie kein Wort von dem, was er sagte. Aber wo immer er sie traf, redete er mit ihr wie mit jedem anderen, ohne sich an ihrer Behinderung zu stören. Anfangs schreckte sie vor seiner Stimme zurück und flüchtete in die Tunnel, die vom Pesthof wegführten. Später aber begann sie, ihm durch die Gewölbe zu folgen, wo immer sie ihn traf. Mit der Zeit hatte sich Finn an seinen lebendigen Schatten gewöhnt und erzählte ihr Sachen, die er sonst keinem anvertraut hätte. Doch so nah wie heute hatte sie sich nie an ihn herangetraut.
Er betrat die Wohnung und suchte seine Küchenschränke nach der Kakaodose ab. Etwas Warmes würde der Kleinen guttun, vielleicht würde sie es annehmen, wenn er ein Glas vor die Tür stellte und ihr Zeit lieÃ. Das Pulver in der Dose war völlig verklumpt. Er rümpfte die Nase. Hoffentlich konnte er etwas davon mit einem Löffel abschaben, ohne den Presslufthammer zu bemühen. Aus dem Kühlschrank holte er eine Packung Milch und nippte daran. Den Schluck spuckte er gleich
in die Spüle aus â die Milch war sauer. Das würde nichts mit dem Kakao. Aber einen Tee und ein Sandwich würde er sicherlich hinbekommen.
Als er sich umdrehte, fiel ihm vor Schreck die Packung aus der Hand, und die Milch ergoss sich auf die Fliesen. Ylva stand dicht hinter ihm. Leicht nach vorn gebeugt, mit schlaff hängenden Armen und dem Haar vor dem Gesicht, ähnelte sie einem Geist, der gekommen war, um seine Seele zu holen. Die Augen hielt sie zusammengekniffen, und an den Fältchen bröckelte der Schmutz ab. Nur die Ratte brachte Regung in das Bild, indem sie von einer ihrer Schultern zur anderen huschte, dann hinunterkletterte und an der Milchpfütze leckte, selbige aber sogleich verschmähte.
»Himmel, hast du mich erschreckt!« Zunehmend machte die Situation ihn nervös, aber er bemühte sich, seinen Gemütszustand zu verbergen. Sie würde ihm schon nichts tun. Bloà keine hastigen Bewegungen, dann würde alles gut.
Beim Klang seiner Stimme machte die Kleine einen Sprung nach hinten. Plötzlich begann sie, mit den Armen zu fuchteln, und stieà Laute hervor, die sich wie Jaulen und Fiepen anhörten. Irgendetwas wollte sie ihm mitteilen. Aber
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