Nachtseelen
Kälte.
Schwere Schritte zerrissen die Stille. Sie hob den Blick, und mit einem Mal war alles wieder da, der Junge, der Keller und vor allem: ihr Peiniger.
Das Licht vor der Gittertür wurde verdeckt. Das Schloss klapperte.
»Der Schwarze Mann!«, keuchte sie und klammerte sich an den Arm ihres Trösters. »Lass ihn mir nicht wieder wehtun!«
Der Junge atmete scharf ein, und sein Körper spannte sich an.
Die Gestalt ragte oben an der Treppe auf wie ein Berg und erdrückte alles mit ihrer Präsenz, dunkler als die Finsternis ringsherum. Dann regte sich der Berg. Der Mann schleifte etwas wie einen Sandsack herunter, und ein dumpfer Aufschlag markierte jede Stufe. Schweigend verlieà er den Keller wieder. Die Tür fiel ins Schloss.
Sie wagte es, aufzuatmen und die bis zum Schmerz verkrampften Finger von dem Ãrmel des Jungen zu lösen.
Das, was auf dem Boden zurückblieb, war ein Mädchen. Es war bis auf die Unterwäsche ausgezogen, die
zerrissen und blutgetränkt an seinem geschundenen Körper klebte. Blaue Flecken und klaffende Wunden übersäten seine Haut.
Ist sie tot? Es war mehr ein Gedanke, und ihr war nicht bewusst, die Worte ausgesprochen zu haben. Der Junge berührte das Handgelenk des Mädchens. »Nein, aber sie hat Fieber.«
Mit dem Saum seines Hemdes wischte er dem Mädchen den Schweià ab. Ein Zittern fuhr durch den schmalen Körper. Es fauchte und bäumte sich auf. Der Junge schrak zurück.
Die rissigen Lippen bewegten sich, ohne dass ein menschlicher Laut die Kehle verlieÃ, und die Glieder begannen zu zucken, als versuche ein Marionettenspieler, die verhedderten Fäden seiner Puppe zu lösen.
Der Junge redete auf das Mädchen ein, wollte es berühren, doch als seine Finger die Wange streiften, hob es ruckartig den Kopf und biss nach ihm. Nur knapp verfehlten die Zähne seine Hand.
Opa, hilf mir! Die Angst schlug die Pranken in ihre Seele. Die heulenden und gurgelnden Geräusche der Kranken erregten auch die Tiere, die in den Käfigen wieder zu wüten begannen. Unter der Kakophonie des Wahnsinns zappelte das Mädchen, spuckte und biss wild um sich.
Nicht zusehen, nicht zusehen! , pochte es in ihrem Kopf. Aber sie sah trotzdem zu, wie gebannt von dem Tanz des Grauens. Das Mädchen fuchtelte mit den Armen und Beinen, warf sich von einer Seite auf die andere
und schrie. Dann wurden die Laute heiser, als ersticke es daran. Es bäumte sich zum letzten Mal auf und blieb mit verrenkten GliedmaÃen liegen.
Tot ⦠Das Mädchen war tot!
Jetzt wusste sie es, ohne danach fragen zu müssen. Sie wollte zu Gott für die Seele des Mädchens beten, so wie der Opa es sie gelehrt hatte, konnte es aber nicht. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Kranke tollen und fand nichts Menschliches mehr in dem Anblick. Vielleicht hatte der liebe Gott die Seele der Kleinen schon viel früher zu sich geholt.
Sie hatte nicht gehört, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde, wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Minuten oder Stunden. Erst als die Tür aufschwang und wie ein Todesgong gegen die Wand knallte, wurden sie und der Junge aus ihrer Starre gerissen.
Der Schwarze Mann kam zurück!
Der Strahl der Taschenlampe beleuchtete den Jungen, dann das Mädchen auf dem Boden und traf schlieÃlich auf sie. Das Licht glitt an ihr herab, als tastete es jeden Zentimeter ihres Körpers ab. Sie zog ihr Strickjäckchen enger um die Schultern, rollte sich zusammen und hoffte, der Schwarze Mann würde sie übersehen. Doch der Lichtkegel fixierte sie.
Die schweren Schritte kamen die Stufen herunter und hallten in ihren Ohren wider. Sie fröstelte.
Dann stand der Schwarze Mann direkt vor ihr â ein Riese mit breiten Schultern und bulligem Kopf. Er griff nach ihr. Die Finger bohrten sich in ihren Oberarm,
und ein Schmerzensschrei entfuhr ihr, als er sie auf die Beine zerrte.
Sie suchte den Blick des Jungen. »Bitte hilf mir«, formten ihre Lippen tonlos, während ihr Peiniger sie zur Treppe schleppte. Sie wand sich in seinem Griff, strampelte mit den FüÃen und sah immer wieder nach dem Jungen. »Bitte, bitte!«
Er rührte sich nicht. Panik und Verzweiflung schlugen ihr aus seinen Augen entgegen. Und ein wenig Erleichterung, dass es nicht ihn traf.
Der Schwarze Mann erreichte die Stufen.
»Strolch!«, kreischte sie und streckte ihre Hand nach ihm aus. Lass nicht zu, dass er mir
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