Nachtseelen
nicht schieÃen. Also hör auf mit dem Theater, und ich werde dir vielleicht nicht wehtun müssen.«
Der Schuss zersplitterte seine Worte. Der Lauf war auf das Gesicht des Mannes gerichtet gewesen, doch die Kugel streifte seinen Kopf nur. Das reichte trotzdem, um den Riesen ohnmächtig werden zu lassen und damit wenigstens einen Gegner auszuschalten. Der Fuchs blieb. Lauerte. Kroch wie ein Schatten an der Wand entlang.
Sie sah das Tier, der Junge aber nicht. Sie hätte ihm
zurufen können: »Pass auf!«, tat es jedoch nicht, denn sie durfte der Welt um sie herum nicht erlauben, real zu werden. Wenn es für sie keine Angst mehr gab und keinen Schwarzen Mann, dann auch keinen Fuchs und keinen Jungen.
Der Fuchs sprang und biss ihn in den Arm. Er lieà die Waffe fallen und versuchte, das Tier abzuschütteln. Zusammen krachten sie gegen einen Metalltisch, der scheppernd umkippte. Das Tier lieà von seinem Opfer ab und schlitterte über die Fliesen. Der Junge nutzte die Chance und versetzte dem Tisch mit den Beinen den nötigen Schwung. Der Fuchs geriet zwischen die Metallplatte und die Wand, jaulte auf und stürmte aus dem Raum.
Der Junge blieb liegen.
Er wird nicht aufstehen, dachte sie, er schafft es nicht mehr. Aber er schaffte es, als trotzte er ihr, seinem Peiniger, der ganzen Welt. Einige Augenblicke lang hielt er seinen Triumph aus, dann sank er neben dem Schwarzen Mann auf die Knie. Er durchsuchte die Taschen des Bewusstlosen und fand den Schlüsselbund, sammelte seine Kräfte und schleppte sich zur Gittertür. Einige Sekunden lang stocherte er mit dem Schlüssel herum, ohne das Schloss zu treffen. Seine Hände zitterten, und er hielt sich kaum noch aufrecht. Nach mehreren Anläufen klappte es: Die Tür schwang auf.
»Komm, ich bringe dich nach Hause«, flüsterte er und streckte ihr die Hand entgegen.
Sie rührte sich nicht. Ihr Geist, der in einer ganz anderen
Welt weilte, weigerte sich, in den Schrecken der Realität zurückzukehren. Benommen beobachtete sie, wie der Junge seine Arme unter ihre Achseln schob und sie hochzog. Sein Blut sickerte durch ihre Kleidung und klebte an ihrer Haut. Es war unangenehm, eklig, so dass sie ihn von sich stoÃen wollte, doch er hielt sie fest.
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm zu erlauben, sie fortzuziehen. Wie von fern registrierte sie einen dunklen Gang, der sie von beiden Seiten einengte, eine Holztreppe, die wenige Stufen nach oben führte, und schlieÃlich einen runden Eingangsraum mit Fenstern, die mit ausgefransten Bettlaken verhängt waren.
Der Junge rüttelte an der Türklinke. Verschlossen. Irgendwo im Haus ertönten das Bellen des Fuchses und Schritte. Vermutlich die Monsterfrau.
Der Junge riss ein Laken herunter und öffnete das Fenster. »Da, schnell!«, keuchte er. Die Worte verlieÃen rasselnd seine Lippen.
Sie bewegte sich wie im Schlaf, so musste er sie eher nach drauÃen schieben, als dass sie selbst herausgeklettert wäre.
Ein schneidender Wind tobte um das Haus und lieà die Bäume ächzen, die ihre kahlen Ãste wie Bettelarme in den Himmel reckten. Dunkelheit hüllte sie ein. Der Junge stolperte vorwärts, hielt sich an Stämmen fest, während die eisigen Böen ihn umzustoÃen versuchten.
Sie tapste ihm hinterher. Es war ihr egal, wohin er sie brachte. Wenn er ihre Hand losgelassen hätte, wäre sie
stehen geblieben. Aber er zerrte sie mit sich, und der Griff seiner klebrigen, kalten Finger war alles, was sie spürte. Die Gefühlsleere beherrschte ihr Wesen; nachzudenken oder etwas zu empfinden schien ihr verboten. Unter ihren FüÃen knackten Ãste wie dünne Knochen, die Blätter raschelten, und manchmal kam es ihr vor, als wären diese Geräusche die Echos ihrer Gedanken, die in ihrem Kopf ab und zu aufblitzten.
Ein Pfad kreuzte ihren Weg. Der Junge zwängte sich weiter zwischen den Bäumen hindurch, wie ein Tier, das Haken schlug und seine Spur verwischte. Endlich taumelten sie auf eine StraÃe. Die Böen brachten den Geruch des Wassers mit sich. In der Ferne blinkten die Lichter der Schiffe und Kräne, fast gespenstisch, und spiegelten sich in der schwarzen Elbe.
Der Junge zitterte am ganzen Körper, und sie glaubte, seine Zähne klappern zu hören. Unter dem nächsten Windstoà knickten seine Beine ein, und er brach zusammen. Sie stolperte und fiel mit ihm. Ihre Hand streifte
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