Nachtseelen
halboffenem Mund starrte Alba die Frau an. Das Gesagte sollte wohl tröstend wirken, aber das war es nicht. Und es lag gar nicht an den Worten selbst, die Alba verunsicherten, sondern an der Tatsache ⦠an der Tatsache, dass Evelyn anscheinend ihre Gedanken gelesen hatte.
»Ertappt.« Die Frau schmunzelte. »Ja, ich kann deine Gedanken lesen, du aber meine nicht. Wobei âºlesenâ¹ nicht das richtige Wort ist. Es ist eher âºempfangenâ¹ â ein Rauschen, ein Chaos unterschiedlichster Gefühle. Die meisten Menschen lassen unbewusst eine Menge
heraus, weil sie ihr Ãjnâ nicht kontrollieren können. Es ist schwer, in diesem Durcheinander etwas Klares wahrzunehmen, man muss sich sehr anstrengen, und auch dann geht das nur bei den äuÃerst starken Empfindungen. Meistens blende ich dieses Rauschen aus.«
Ãjnâ? Mit Absicht konzentrierte sich Alba auf dieses Wort, um es irgendwie Evelyn zu schicken, um sie damit zu testen.
Ein kurzes Stirnrunzeln, eine Pause â dann nickte die Frau.
»Das dritte Auge. Solche wie ich besitzen telepathische Kräfte. Bringt mehr Probleme, als es nutzt, wenn du mich fragst.«
Zugegeben, so zu kommunizieren fiel Alba um einiges leichter. Nicht stottern â einfach intensiv denken. Und vor allem: Sie konnte es im Geheimen tun! War das nicht ihre Chance?
Bitte! Lass mich gehen! Lösche meine Erinnerungen, wenn es sein muss, aber lass mich frei! Ergriffen von diesem Wunsch, bemerkte Alba nicht, wie sie Evelyns Hände packte. Von der Dringlichkeit ihrer Gedanken spürte sie einen Druck auf ihrer Stirn, ihr wurde leicht schwindelig, dennoch stieà sie mit all ihrer Stärke heraus: Hilf mir! Bitte!
Unterschiedliche Regungen kämpften in Evelyns Gesicht: Mitgefühl, Verständnis, sogar so etwas wie ein Beschützerinstinkt. Umso entmutigender kam ihr Flüstern: »Ich kann nicht.«
»A-ab-ber w-warum?«
Evelyn lieà die Schultern sinken. »Weil wir â Adrián und ich â Finn etwas schulden. Und das hier ist die Möglichkeit, es zu begleichen, auch wenn mir nicht gefällt, was er tut. Aber ohne ihn gäbe es Adrián nicht mehr und mich vielleicht auch nicht. Er war da, als wir ihn am meisten gebraucht haben, und jetzt sind wir an der Reihe, ihm einen Dienst zu erweisen.« Sie lächelte schelmisch. »Danach müssen wir nicht einmal mehr seinen Namen kennen, und würde er uns begegnen, könnten wir ihn ruhigen Gewissens aussaugen.«
Wieder glitzerte diese Gier in ihren Augen auf und verebbte. Unwillkürlich rückte Alba ein Stück weg von der Frau.
Bist du auch ein Metamorph?
»Oh nein. Ich bin seine natürliche Feindin in der Nahrungskette, wenn du so willst. Ihm aber im Moment, da wir gemeinsame Feinde haben, eine Freundin. Keine Sorge. Du bist in Sicherheit, ich werde dir nichts tun.« Evelyn beugte sich zu ihr. »Auch wenn deine Aura einen Leckerbissen verspricht.«
Die Angst verengte Albas Kehle, und sie begann, an ihren Haarspitzen zu rupfen. Wer bist du? Und wer ist Finn? Was wird hier gespielt? In ihrem Unterbewusstsein pochte: Ich will hier raus, ich muss fort! Mit aller Macht versuchte sie es zu unterdrücken, damit die Frau keinen Verdacht schöpfte. Es jagte Alba Schauerwellen den Rücken hinunter, sich Evelyn als Bewacherin vorzustellen.
»Gut, ich versuche es dir zu erklären«, begann die Frau. »Nach der Geburt unterscheidet sich ein Metamorph
nicht von einem normalen Menschen, doch sein Erbe wurde ihm bereits von den Eltern übergeben. Er wird als ein Anwärter erzogen, solange er sein Seelentier nicht gefunden hat und die Verbindung mit ihm noch nicht eingegangen ist. Manche schaffen es nie, dann werden sie von der Gemeinde verstoÃen. Die Anwärter werden auf ihr späteres Leben als Metamorphe vorbereitet, jedoch nicht wirklich in die Belange der Gemeinde einbezogen. Jede Gemeinde wird von einer Königin regiert. Sie hat groÃe Macht über ihre Untertanen, die ihre Entscheidungen akzeptieren und ihre Befehle befolgen müssen. Doch nicht alle sind bereit, ihr willenlos zu gehorchen. Einige rebellieren und verlassen die Gemeinde. Die Abtrünnigen â so werden sie genannt â enden in den meisten Fällen schlimm, denn die Königin lässt ihre Seelentiere aufspüren und töten, wodurch sie die Armen in eine Seelenkrise stürzt. Manchmal tötet sie auch die Abtrünnigen, zur
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