Nachtseelen
könnte.
Einatmen.
Ausatmen.
Und alles rückte in weite Ferne. Man kann nicht sauer auf einen Menschen sein, der einem nichts mehr bedeutet, redete sie sich ein. Man kann auch nicht mehr von ihm enttäuscht werden.
»Bitte, lass mich alles erklären.« Finn ergriff ihre Hand. Die Berührung riss Alba zurück in die Realität. Sie zuckte zusammen und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Die Hand rutschte ihr einfach so aus, doch schon im nächsten Augenblick schlug sie ihn erneut, dann noch einmal und noch einmal, konnte gar nicht damit aufhören.
»Rühr. Mich. Nicht. An!«, schrie sie ihm ins Gesicht. Vier Worte, die den ganzen Hass, die ganze Enttäuschung und das ganze Leid in ihr definierten.
Er wehrte sich nicht, während sie ihn blind vor Wut traktierte. Vielleicht hätte sie ihn bis zum Tode geschlagen, hätte sie nicht Blut an seiner Lippe bemerkt und innegehalten.
Er saà mit gesenktem Kopf da, die Schultern leicht
gehoben, als warte er auf weitere Schläge. »Bitte, lass mich alles erklären.«
Sie sprang aus dem Bett, auf der anderen Seite, um bloà nicht zu nah an ihn heranzutreten. Ihre von der Katze verletzte Haut spannte, ein paar Wunden gingen wohl auf und brannten. Die Fetzen des Negligés rutschten ihr von den Schultern und entblöÃten ihre Brust. Zum Hass mischte sich Scham. Alba riss das Laken vom Bett, wickelte sich darin ein und rannte aus dem Zimmer. Sie hätte geheult, aber ihr Stolz erlaubte es ihr nicht, die Tränen vor Finn zu zeigen. Vor einem Mann, der sie mehr verletzt hatte, als es ihre Mutter in all den Jahren jemals vermochte.
Im Flur stieà sie mit einer Frau zusammen, die durch eine milchverglaste Schiebetür aus einem anderen Raum trat. Etwas fiel klimpernd auf das Parkett. Alba blieb abrupt stehen.
»Huch, Vorsicht!«, mahnte die Unbekannte â Ende zwanzig, keine Schönheit, aber ihre Gesichtszüge strahlten einen gewissen Charme aus. Das rotbraune Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die groÃen Rehaugen schimmerten â nein, nicht scheu, sondern irgendwie frech. »Ich hätte dich fast aufgespieÃt.«
Die Frau hob etwas vom Boden auf, und ein Messer glitzerte in ihrer Hand. Es verfügte über eine lange, geschwungene Klinge und einen antik aussehenden Griff, den ein Löwenkopf zierte.
Unwillkürlich wich Alba vor der Waffe zurück. Mit
dem Ding zerteilte diese moderne Amazone sicherlich keine Hähnchenbrustfilets.
»Keine Angst«, lachte die Unbekannte auf. »Ich habe es gerade poliert, da werde ich es doch nicht gleich wieder mit Blut besudeln. AuÃerdem bist du hier ein Gast. Und ich habe nicht die Angewohnheit, meine Gäste aufzuschlitzen.« Sie schmunzelte und betrachtete Alba von Kopf bis FuÃ. »Hm, du willst sicherlich was anziehen, oder? Ach, da werden die Erinnerungen wach. Hättest einfach eines von Adriáns Hemden nehmen können.« Ihr Grinsen wurde breiter. »Aber vielleicht passen dir meine Sachen. Komm erstmal in die Stube.« Sie machte eine einladende Geste zu der milchverglasten Schiebetür.
Das Chaos des Umzugs zeichnete auch das Wohnzimmer aus. Die meisten Regale waren abgebaut, in einigen Glasvitrinen des Wandschranks herrschte gähnende Leere, und Lücken in einer dünnen Staubschicht deuteten auf die Plätze hin, wo früher die Sachen gestanden hatten. Ein Tresen trennte eine Küche, die allerdings wenig Benutzungsspuren aufwies, vom Wohnbereich.
»Wir ziehen um«, erklärte die Frau und deutete dann auf das Sofa. »Setz dich, ich bringe dir gleich ein paar Kleider. Mal schauen, was sich in diesem Durcheinander finden lässt. Ãbrigens, ich heiÃe Evelyn.«
Sie wartete keine Antwort ab und verschwand aus dem Raum. Ihre Schritte verhallten, kurz darauf erklangen gedämpfte Stimmen aus dem Schlafzimmer. Gehörte
diese Frau zu Finns Eroberungen? Alba spähte in den Korridor, schlich näher heran und lauschte.
»⦠hast du vor?« Das Wispern kam von Evelyn. Die Intonation vermochte Alba allerdings nicht zu deuten. Hörte sie da Missmut heraus? Oder Besorgnis? Vielleicht sogar eine Spur von Angst?
»Ich werde ihr die Wahrheit über all das sagen. Sie hat ein Recht darauf.« Die Entschlossenheit und Strenge in seinem Ton kamen überraschend. Er klang so gar nicht wie der Finn, den Alba zu kennen meinte, mit dem sie auf dem Dachboden ihres GroÃvaters
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