Nachtseelen
Eiskristalle stachen ihr wie tausend Nadeln in die Haut und wanderten, einem Brand ähnlich, durch ihren Körper. Das Atmen fiel ihr schwer, als würde sie in einer frostigen Nacht nach dünner
Luft schnappen, während ihr Herz krampfte und immer langsamer schlug. Etwas kroch in ihren Schädel, und Alba hatte das Gefühl, als wuselten Würmer in ihrem Hirn. Sie schmeckte ihre eigene Angst, die an ihrem Gaumen wie ranziges Fett klebte.
Andere Bilder mischten sich dazu, Erinnerungen, die nicht ihr gehörten.
Ihr Opa kniet sich vor den Kali-Altar. Alba beobachtet ihn eine Weile, dann schreitet sie aus dem Nebel auf ihn zu und steht in einer Ecke seines Wohnzimmers. Er bemerkt ihre Anwesenheit, dreht erschrocken den Kopf um.
Man sollte nicht mehr Teufel rufen, als man bannen kann, alter Mann , schlägt ihm ihre verzerrte Stimme entgegen, mächtig wie ein Donner. Kurz darauf spritzen die ersten Blutstropfen an die Wand.
Alba schrie vor Schmerzen in ihrer Stirn auf. Ihr wurde schwindelig, sie verlor jeglichen Orientierungssinn. Wo war sie? Was passierte mit ihr? Sekunde für Sekunde verlieà immer mehr Kraft ihren Körper. Bald würde sie nicht einmal einen Finger rühren können.
Evelyn, es reicht! Sie lag auf dem Boden. Das Gewicht der Nachzehrerin drückte sie nieder. Unter der Decke schien der Lüster zu schwanken und zu verschwimmen, die Realität verabschiedete sich von ihr.
Der Rotmilan stürzte sich auf Evelyn und grub ihr die Krallen in den Rücken, doch auch das brachte die Untote nicht von Alba ab.
Stopp, es ist genug!
Die Nachzehrerin hörte sie nicht und saugte weiter an ihren Lippen, trank sich satt an ihrer Seele. Alba klammerte sich an die Fetzen ihres Verstandes, die ihr noch geblieben waren. Sie musste etwas tun! Sie würde sterben, wenn sie ihrer Schwäche nachgäbe.
Sie wand sich unter Evelyn und stöhnte, doch die Untote presste sie nur noch entschiedener nieder und raubte ihr jegliche Bewegungsfreiheit.
Dann hörte Alba, wie eine Fensterscheibe zersplitterte, und etwas zerschellte auf dem Boden. Roch sie etwa Benzin? Der Vogel schrie noch durchdringender, schlug mit den Flügeln.
Die ersten Rauchschwaden scheuerten Albas Kehle wund. Die Wohnung stand in Flammen.
Kapitel 17
V erzweifelt tastete Alba um sich, während es ihr vorkam, als würden sich Stahlplatten auf ihre Brust legen. Sie würde ersticken! Oder an der Beulenpest verenden, jeglicher Kraft beraubt. Ihre Finger, ausgestreckt, bis die Sehnen schmerzhaft spannten, streiften ein Essstäbchen, das vermutlich vom Tisch auf den Boden gerollt war. Mit den Nägeln kratzte sie über den Teppich. Wo war es? Hatte sie es mit einer falschen Bewegung aus ihrer Reichweite gestoÃen? Sie bemühte sich, das Gesicht zur Seite zu drehen, schielte, bis sie fürchtete, ihr würden die Augen aus dem Kopf rollen, während Evelyn nur noch fester den Mund auf ihren presste.
Alba stöhnte und bäumte sich auf, doch es gelang ihr nicht, die Nachzehrerin abzuschütteln. Wie auch? Es war, als würde man versuchen, den Tod persönlich von sich zu stoÃen. Dann kam das Stäbchen unter ihre Finger. Sie umschloss das Holz wie ein Kruzifix, wagte es kaum zu glauben, dass sie so viel Glück hatte. Es zu benutzen, traute sie sich allerdings immer noch nicht.
Evelyn, hör auf! Zwinge mich nicht dazu, es zu tun , flehte sie, aber die Frau hörte sie nicht, völlig in ihrem Element. Gierig saugte die Untote an Albas Lebensenergie,
trank von ihren Gefühlen, Wünschen und Hoffnungen.
Es muss sein. Und du wirst doch nicht sterben, oder? Du kannst nicht sterben. Noch zögerte Alba. Dann holte sie aus.
Sie zielte auf die Schulter, um Evelyn nicht ernsthaft zu verletzen. Der Schmerz würde die Nachzehrerin ablenken, sie in die Wirklichkeit zurückholen, zumindest hoffte Alba das. Doch inzwischen war sie zu benebelt, um ihre Handlungen zu koordinieren. Sie rammte das Stäbchen in Evelyns Fleisch und traf den Hals.
Warmes Blut tropfte sogleich auf sie und lief über ihre verschwitzte Haut. Die Nachzehrerin keuchte und fiel von ihr ab, unwissend, was gerade passiert war, die Augen weit aufgerissen. Verwirrung und Panik flammten darin wie die Feuerzungen, die die Wände emporkrochen.
Alba atmete scharf ein. Der Rauch kratzte in ihrem Rachen, das Schlucken tat ihr weh. Sie zog sich an dem Sofa hoch auf die Knie, lehnte eine Wange gegen das kalte Leder.
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