Nachtseelen
es nicht.
»Wer sagt denn, dass deine Erinnerungen dir helfen können? Es ist bereits zwölf Jahre her. Was für Hinweise erhoffst du dir?«
Das weià ich nicht. Aber es ist besser als nichts, oder?
Evelyn stützte sich auf einem Kartonstapel ab und senkte den Kopf. Ãberlegte sie? Innerlich flehte Alba sie an, ihr zu helfen. Wenn die Nachzehrerin »Nein« sagen
würde, welche Hoffnung würde ihr noch bleiben? Und mehr noch: Welche Hoffnung würde den entführten Kindern bleiben?
»Das ist zu gefährlich.« Evelyn klappte den obersten Karton zu. Das Klebeband ratschte, als sie mit einer ruckartigen Bewegung den Deckel zuklebte. »Also: Nein.«
Albas Herz fiel ins Bodenlose. Doch sie raffte sich auf. So einfach durfte sie nicht aufgeben. Statt Mutlosigkeit brauste Rage in ihr auf. Wieso entscheidet ihr darüber, woran ich mich erinnern darf und woran nicht? SchlieÃlich sind es meine Erinnerungen. Sie gehören mir! Und ich fordere sie zurück.
»Alba, du weiÃt gar nicht, was du verlangst. Zum einen bin ich noch nicht lange genug eine Nachzehrerin, um mich an so etwas zu wagen. Zum anderen â auch ich könnte die Kontrolle verlieren und dich dabei töten. Oder dir dadurch die Krankheit verpassen. Ich will mir gar nicht vorstellen, was Finn dafür mit mir machen würde.«
Aber wenn du es nicht tust, werden noch mehr Kinder sterben! Wie soll ich dann damit leben?
»Alba â¦Â«
Sie versuchte es auf eine andere Weise: Hermann meinte, Metamorphe steckten dahinter. Ihr wollt sie doch vernichten, da sollte jede Information für euch wichtig sein.
»Alba, hör mir zu â¦Â«
»N-nein! Hör du mir zu!« Die Wut über ihre eigene Hilflosigkeit brach aus ihr hervor. Mühsam und stockend
sprach sie: »Gib mir meine Erinnerungen zurück. Ihr habt kein Recht, sie mir zu verwehren. Und wenn das, was mein Opa bereits ermittelt hat, nicht umsonst sein soll, dann muss ich das Ganze zu Ende bringen.«
Evelyn seufzte und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Na gut. Es sind deine Erinnerungen. Es ist deine Entscheidung.«
Die Nachzehrerin zögerte. Albas Inneres zog sich zusammen. Evelyn würde jetzt doch keinen Rückzieher machen, oder? Vielleicht sollte sie selbst lieber von der Idee ablassen? Sie schloss die Augen und hoffte, nichts von ihren Zweifeln preisgegeben zu haben.
Evelyn strich ihr das Haar zur Seite. Eine hauchzarte Berührung, die Alba erstarren lieÃ. Sie hielt inne, vergaà fast zu atmen, und nur ihr Herz schlug dumpf in ihrer Brust.
Der Schmerz stieà in die Mitte ihrer Stirn, durchbohrte ihren Schädel, und vor ihren Augen begannen schwarze Punkte zu tanzen. Evelyns Iris wurden hell, bis das Braun sich eisblau färbte.
Aus den Tiefen ihres Verstandes krochen die Erinnerungen hervor, zuerst unscharf und zittrig einem alten Film ähnlich, dann gewannen sie mehr an Einzelheiten und überrannten Alba mit einer erschreckenden Realität. Erneut durchstach etwas die Mitte ihrer Stirn, als hätte ihr jemand einen Schraubendreher zwischen die Brauen gerammt, und die Bilder entfalteten sich vor ihrem geistigen Auge.
Sie wird in die Dunkelheit gestoÃen, poltert die Stufen
hinunter und schlägt auf dem Boden auf. Hinter ihr fällt die Gittertür scheppernd zu. Schmerzhaft durchzuckt es ihren Arm bis zur Schulter und treibt ihr Tränen in die Augen.
Die Bilder flackerten in ihrem Hirn wie in einem Blitzlichtgewitter auf: der Schwarze Mann, der Junge, das sterbende Mädchen, die Monsterfrau. Gefühlswellen schlugen über ihr zusammen und rissen sie fort. Sie erstickte unter der Masse der Erinnerungen und ertrank in der Panik, die längst der Vergangenheit angehörte. Alba vergaà alles, was um sie herum passierte, sie wurde zu einem achtjährigen Mädchen, das in der Dunkelheit kauerte.
Opa, wo war bloà ihr Opa? Er würde kommen und sie retten. Ganz bestimmt.
Opa â¦
Dann kam der Kuss.
Evelyn, nein! Du solltest mich nicht aussaugen!
Der Rotmilan kreischte auf, sie hörte ihn flattern.
Die Kraft wich aus Albas Beinen. Sie wäre zusammengebrochen, doch Evelyn hielt sie und bettete sie sanft auf den Teppich, ohne die Lippen von ihrem Mund zu lösen. Die Schwäche wurde mit dem Blut durch die Adern getragen und verströmte ein Gefühl von Taubheit in Albas Körper. Der Kuss schien ihre Lippen wie Trockeneis zu versengen. Die
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