Nachtseelen
Weiter schaffte sie es nicht, als hätte sie gerade einen Marathon hingelegt. Ihr Herz hämmerte wild, ihr Atem ging stockend, und der Schweià rann ihr aus allen Poren.
Evelyn? Ihr Blick trübte sich, doch es gelang Alba, bei Bewusstsein zu bleiben.
Die Nachzehrerin antwortete nicht. Sie hielt sich die Wunde zu, aus der noch das Stäbchen ragte. Blut zog glänzende, weinrote Bahnen über ihre blasse Haut.
»E-evelyn«, hauchte Alba und beugte sich über die Verletzte. Sie wollte das Stäbchen herausziehen, doch Evelyn stieà sie mit einem Röcheln beiseite: »Bloà nicht.«
Es ⦠es ⦠Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und ein »Es tut mir leid, dass ich dich umgebracht habe« hörte sich mehr als dämlich an.
»Nein. Mir sollte es leidtun, nicht dir.« Der Satz ging in einem Gurgeln unter, Blut trat auf Evelyns Lippen.
Alba sah sich um, sie konnte sich nicht erlauben, noch länger untätig zu sein. Jetzt musste sie sich und die Nachzehrerin vor den Flammen retten.
Der dichte Rauch hing unter der Decke. Die Flammen leckten am Teppich, krochen zu den Fenstern und erreichten die Gardinen. Blitzschnell kletterte das Feuer hoch und fraà Löcher in den Stoff. DrauÃen war es bereits Abend geworden, die Flammen spiegelten sich im dunklen Glas wider.
Sie mussten raus aus der Wohnung! Alba versuchte Evelyn anzuheben, um sie fortzuschleifen, doch diese wehrte sich.
»Lass ⦠mich â¦Â« Evelyn röchelte. »Bring dich in Sicherheit.«
»A-aber â¦Â«
»Wenn ich zu schwach werde, werde ich über dich herfallen und dich töten. Geh jetzt!«
»N-nein.« Zu oft war sie bereits geflohen und hatte andere Menschen im Stich gelassen. Jetzt musste sie endlich anfangen, an andere zu denken und nicht nur daran, wie sie ihre eigene Haut retten könnte.
Ungeachtet des Protestes half sie Evelyn hoch. Das Gewicht der Frau lastete schwer auf ihr. Selbst wackelig auf den Beinen, stützte sie die Untote und stakste zum Flur.
Hoffentlich würde sie es schaffen und nicht in dieser Feuerhölle zusammenbrechen. Die Flammen verschlangen die Umzugskartons, näherten sich dem Zeitungspapier und loderten immer höher. Von dem raschen Temperaturanstieg platzte das Milchglas der Schiebetür.
Alba kniff die Augen zusammen und schwankte in den Flur und schnurstracks weiter durch die Hitze, die auf ihrem Gesicht tanzte. Jeder Atemzug schien ihre Lunge zu versengen. Sie hustete, und es kam ihr vor, als zerrissen Klauen ihre Brust.
Sie öffnete die Lider. Der Weg zur Eingangstür wurde ihr durch das Feuer abgeschnitten, so gab es keine Rettung nach drauÃen. Sie mussten ein Zimmer erreichen, das noch nicht in Flammen stand und in dem sie Hilfe abwarten könnten.
Evelyn hing schlaff an ihrer Seite, den Blick panisch auf das Feuer gerichtet, das ihr mehr Angst einzujagen schien als irgendetwas anderes. Alba glaubte, unter ihrem Gewicht bald zusammenzubrechen.
»K-komm«, spornte sie die Untote an. »Hi-hilf m-mir!« Ein Schritt, ein Kampf, ein Sieg. Noch einer. Immer weiter, weg von dem Feuer.
Evelyn brachte keinen Ton heraus. Die Flammen hielten sie in ihrem Bann, dem sie nicht entrinnen konnte. Als eine Feuerzunge herausschoss und sie beide fast erreichte,
stieà Evelyn einen erstickten Schrei aus und brach zusammen.
Mit ihr fiel Alba auf die Knie.
Sie konnte nicht mehr. Sie konnte ⦠Du musst!
Sie ging nicht, sie kroch und schleifte Evelyn mit sich, zur nächsten Tür, die Rettung versprach. Nein, keine Rettung, aber einen Aufschub. Endlich erreichte sie die Tür und fiel entkräftet über die Schwelle. Es war ein Arbeitszimmer mit Regalen voller Ordner, einem groÃen Computertisch, der sogar Albas Vater hätte neidisch werden lassen, einer Ledercouch an der Wand und abstrakten Bildern, die farblich zum Interieur passten.
Durch die Tür drang ein Schwall Rauch herein. Alba hustete bis zur Erschöpfung. Noch durfte sie sich nicht ausruhen.
Sie zog Evelyn in die Mitte des Raumes und schlug die Tür zu. In die Ritze über dem Boden stopfte sie einen Teil des Teppichläufers. Kein guter Schutz, aber besser als nichts. Wie lange würden sie es hier aushalten?
Der Akt hatte ihre letzten Kräfte gefordert. Ihr Kopf fühlte sich schwer an, und es kostete Alba Mühe, ihn hochzuhalten. Aber wenn sie jetzt schlappmachte, würde sie nicht mehr aufstehen können. Und sie
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