Nachtseelen
musste die Feuerwehr rufen, Hilfe holen. Aber wie? Sie würde am Telefon nicht einmal einen klaren Satz herausbringen können.
Alba kroch zu Evelyn, die ihre Augen geschlossen hielt. War sie tot? Eine dumme Frage in Anbetracht dessen, was für ein Wesen dort vor ihr lag.
Wach auf! Alba klopfte ihr auf die Wangen. Ich schaffe es nicht allein.
Die Lider der Untoten flackerten. Ihr trüber Blick irrte durch den Raum, dann blieb er an Alba hängen. Lauernd, so kam es ihr vor. Gier flammte darin auf, und die Pupillen weiteten sich, bis sie fast das WeiÃe erreichten. Evelyns rechte Hand schnellte hoch und packte Alba am Nacken. Die Nachzehrerin zischte und biss sich auf die Unterlippe, zerkaute ihr eigenes Fleisch. Sie rang sichtlich mit sich, während ihre Haut immer mehr an Farbe verlor und wie mit Asche bestäubt wirkte. Diesmal gewann sie und lieà Alba frei.
Alba verbat sich, darüber nachzudenken, ob sie beim nächsten Mal auch so viel Glück haben würde. Und wann dieses nächste Mal käme. In einer Minute? In einer Viertelstunde? Würde sie der Nachzehrerin zum Opfer fallen oder den Flammen?
Evelyn! Alba nahm das Gesicht der Frau in ihre Hände. Es gab nur eine Hoffnung. Diese telepathischen Kräfte, die du hast â würde Adrián dich hören, wenn du ihn rufst?
Evelyn rührte sich nicht. Dann brachte sie ein schwaches Nicken zustande.
Dann tu es! Wir brauchen seine Hilfe.
Die Lider fielen Evelyn zu. Ihr Körper erschlaffte.
Nein, nein, nein! Alba hätte es fast herausgeschrien. Bleib bei mir. Du musst dich anstrengen, hörst du mich? Alba tätschelte Evelyns Wangen, rüttelte sie an der Schulter, ohne eine Antwort zu bekommen. War alles vorbei? Sie sah zur Tür. Auch durch den Teppich drang
der Rauch in den Raum, tastete sich wie ein lebendiges Wesen vorwärts.
»Evelyn â¦Â« Alba sank neben der Untoten auf den Boden, krümmte den Rücken und schlang die Arme um die Knie. Die Gedanken flossen zäh durch ihr Gehirn. Hoffentlich würde einer aus der Nachbarschaft die Feuerwehr rufen. Denn sie hatte wieder einmal versagt.
Müdigkeit umfing ihren Körper. Sie wollte schlafen. Schlafen ohne Träume und nie mehr in dieser Welt aufwachen. Es war einfach zu viel. Sie besaà keine Energie mehr zu kämpfen.
Das Geräusch splitternden Glases riss sie aus ihrem Delirium. Sie öffnete die Augen, zu mehr war sie nicht imstande, und spürte einen Luftzug.
»Evelyn! Alba!« Adriáns Stimme tönte zu ihr herüber. Gedämpft und unendlich weit entfernt, dennoch ein Teil der Wirklichkeit, die sie verloren geglaubt hatte.
Alba wollte sich aufrichten, ihm zurufen, sie wäre hier, doch sie konnte sich kaum noch rühren. Ihr Körper fühlte sich tonnenschwer an und wie mit dem Boden verschmolzen.
Schnelle Schritte erklangen. Alba erkannte Adrián, der zuerst nach Evelyns, dann nach ihrem Puls tastete. Es kam ihr vor, als würde ihr GroÃonkel durch eine graue Suppe schwimmen, in der sich alles auflöste. Sie bemühte sich, ihre Wahrnehmung auf sein Gesicht zu konzentrieren.
» Dios mÃo , was ist hier passiert?«
Sie bewegte die Lippen, ohne etwas zu antworten. Ihre Zunge rührte sich nicht, als wäre sie ein toter Fisch.
Das Gefühl zu schweben überkam Alba â Adrián hatte sie auf die Arme gehoben. Ein Ruck, und der Mann war am Fenster und sprang auf den Sims. Er bewegte sich mit einer ungewöhnlichen Grazie und Kraft, wie ein Berglöwe beim Angriff auf seine Beute.
Der Herbstwind strich über Albas Körper. Sie hing jetzt in Adriáns Armen wie eine Stoffpuppe und schaute hinunter in den Innenhof, der sich unter ihrem Blick wie Farbkleckse auf feuchtem Papier auflöste. Angst befiel sie. Alba blendete sie aus. Sie blendete alles aus, was sie umgab, wurde zu einem Beobachter, der unbeteiligt verfolgte, was mit ihrem Körper geschah.
Adrián balancierte auf dem Fenstersims. Er umschloss Albas Körper, als würde er ein Baby halten, und drückte sie fest an seine Brust.
» No tengas miedo pequeña. Du hast es schon fast geschafft.«
Die Worte weckten Erinnerungen und Gefühle, die ihr neu waren und trotzdem der Vergangenheit angehörten. Genauso wie jetzt hatte ihr GroÃonkel sie vor zwölf Jahren gehalten, ein kleines, verstörtes Mädchen, und ihr zugeflüstert, alles würde gut werden, sie hätte es fast geschafft. Er hatte
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