Nachtsplitter
einen halben
Liter Wasser und beschloss, zum Festivalgelände zu fahren und nach meiner Jacke zu suchen. Vielleicht hatte ich ja Glück und
sie lag doch noch irgendwo herum. Auf die Jacke selbst konnte ich zur Not verzichten – auch wenn sie ein absolutes Liebhaberstück war, das ich letztes Jahr auf dem Flohmarkt erstanden hatte – , aber ohne mein Handy fühlte ich mich wie ein halber Mensch.
Ich fuhr denselben Weg wie am Vorabend mit Pia. Aber diesmal war ich völlig allein zwischen den Feldern. Die Mittagssonne
knallte vom Himmel und es war unerträglich heiß. Ich schwitzte in Pias Jeans und dem engen T-Shirt und ärgerte mich, dass ich mich zu Hause nicht schnell umgezogen hatte. Kein Lüftchen regte sich. Als die Autobahnbrücke
näher kam, flimmerte der Asphalt in der Hitze. Unwillkürlich fuhr ich langsamer. Es widerstrebte mir, die Brücke zu überqueren.
Als würde ich von einer unsichtbaren, aber sehr mächtigen Kraft abgestoßen. Schließlich stieg ich ab und schob das letzte
Stück. Auf der Brücke war alles völlig unverändert. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Kerzen, Blumen, Trauerbriefe?
Nichts von alldem war zu sehen. Obwohl ich nicht hinschauen wollte, warf ich einenschnellen Blick nach unten. Der Unfallort war geräumt worden. Nur ein paar Glassplitter und eine dicke Beule in der Leitplanke
zeugten noch davon, dass hier gestern ein Mensch sein Leben verloren hatte. Die Autos auf der Autobahn fuhren gleichgültig
an der Stelle vorbei. Das Leben ging weiter.
Nachdem ich die Brücke hinter mir gelassen hatte, stieg ich wieder aufs Rad. Ich überlegte, wo ich anfangen sollte zu suchen.
Vielleicht bei dem Getränkestand, in dessen Nähe ich mit Jakob gestanden hatte. Oder dort, wo Pia und ich unsere Fahrräder
abgestellt hatten.
Doch als ich zum Festivalgelände kam, war der Schlagbaum heruntergelassen und versperrte mir den Weg. Dahinter standen mehrer
Polizeiautos. Ich sah Polizisten in Uniform herumlaufen, offenbar suchten sie den Festivalplatz ab. Sie wurden von einem Mann
in Zivil dirigiert, der so was wie der Chef zu sein schien.
Mein erster Impuls war, kehrtzumachen und abzuhauen, ehe mich jemand entdecken konnte.
Von den Bullen sollte man sich besser fernhalten.
Vielleicht hatte ich diesen Satz heute einmal zu oft gehört.
Aber ich unterdrückte den Fluchtreflex. Die Polizisten waren in ihre Arbeit vertieft, niemand beachtete mich. Und wenn schon,
ich hatte schließlich nichts zu befürchten. Ich konnte im Wald spazieren gehen, so lange ich wollte.
Trotzdem stellte ich mein Fahrrad so hinter einem Busch ab, dass es nicht sofort zu sehen war, und schlug mich leise ins Unterholz.
Ich wollte einen Bogen um das Festivalgelände machen und hoffte, irgendwann wieder auf den Sandweg zu stoßen. Dann konnte
ich zumindest dort nach meinem Handy suchen und würde vielleicht auch die Stelle wiederfinden, an der gestern unsere Fahrräder
gestanden hatten.
Nach einer Weile war von den Polizisten nichts mehr zu sehen und zu hören. Ich lief über den mit Moos bedeckten Boden, kletterte
über umgestürzte Baumstämme und kämpfte mich zwischen dicht stehenden Büschen hindurch. Das Sonnenlicht schien zwischen den
Bäumen hindurch und tauchte den Wald in hellgrünes Zwielicht. Die Vögel zwitscherten und irgendwo hämmerte ein Specht. Hier
zwischen den Bäumen war es kühler als in der prallen Sonne. Ich versuchte, das mulmige Gefühl zu ignorieren, das sich in meinem
Magen ausbreitete. Das hier war nur ein ganz normaler Wald. Nichts weiter.
Irgendwann blieb ich stehen. Wo war der verdammte Weg? Eigentlich hätte ich längst darauf stoßen müssen. Ich drehte mich einmal
um mich selbst, doch ich sah nichts als Bäume, Büsche und Moos. Das Grün kam mir plötzlich erdrückend vor. Das Atmen fiel
mir schwer. Was wollte ich mit dieser Aktion eigentlich beweisen? Glaubte ich allen Ernstes, mein Handy würde hier irgendwo
im Moos liegenwie ein vergessenes Osterei? Oder ging es um etwas anderes?
Das Licht hatte sich verändert. Die Sonnenkringel auf dem Boden waren verschwunden und das Grün der Bäume wirkte düster. Zwischen
den dicht stehenden Fichten lagen undurchdringliche Schatten. Ich wollte weg hier. Raus aus dem Wald. Zurück nach Hause. Aber
ich hatte völlig die Orientierung verloren.
Plötzlich durchzuckte mich eine Erinnerung.
Ich laufe durch den Wald. Zweige schlagen mir ins Gesicht. Es riecht nach Moos. Er ist direkt
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