Nachtsplitter
mehr erinnernkonnte? Musste ich ihnen die Kratzer an meinen Beinen zeigen? Würde dann alles rauskommen? Und wollte ich wirklich wissen,
was in dem Auto geschehen war?
Ärgerlich schlug ich die Augen auf. Ich hatte keine Lust, länger über dieses blöde Thema nachzudenken. Das führte zu nichts.
Trotzdem musste ich mir eingestehen, dass ich beunruhigt war. Genauer gesagt: Ich hatte eine Scheißangst. Vielleicht sollte
ich mich doch freiwillig bei der Polizei melden. Ehe die Bullen zu mir kamen und wissen wollten, warum ich dem Zeugenaufruf
nicht gefolgt war.
Und was willst du ihnen sagen? Dass du früher am Abend auf der Brücke warst? Dann aber leider einen Filmriss hast? Das glaubt
dir doch kein Mensch! Die Polizisten werden sich kaputtlachen und dich vermutlich gleich einlochen.
Mist! Ich saß in der Klemme. Ich konnte nicht zur Polizei gehen, aber es zu lassen bedeutete ein beinahe genauso großes Risiko.
Andererseits – wenn ich eine Zeugenaussage machte, musste ich auch Pia und Markus mit hineinziehen. Das wäre den beiden gegenüber nicht fair.
Außerdem würde dann herauskommen, dass ich mit Jakob und diesem anderen Typen abgestürzt und völlig betrunken in einem fremden
Wagen gelandet war. Alle würden davon erfahren. Meine Mutter, Pia, Markus, die ganze Schule . . .
Nein. Das ging nicht. Völlig unmöglich. Lieber verhielt ich mich still und wartete ab, bis die Polizei beimir klingelte. Wenn sie das überhaupt jemals tat. Es konnte schließlich genauso gut sein, dass irgendwer meine Jacke letzte
Nacht gefunden und mitgenommen hatte. Ich hoffte fast, dass es so war. Auch wenn mir der Gedanke, dass sich eine wildfremde
Person meine privaten SMS, Fotos und die vielen Filme ansah, beinahe körperlich wehtat.
Die Sonne schien mir warm ins Gesicht. Die unangenehmen Gedanken rumorten weiter in meinem Kopf, wurden aber von einer immer
stärker werdenden Müdigkeit allmählich in den Hintergrund gedrängt. Das fühlte sich nicht schlecht an. Meine Augen fielen
wieder zu und eine Sekunde später war ich eingeschlafen.
9
Wieder im Wald. Es ist dunkel, aber nicht kalt. Mir ist sogar ziemlich warm.
»Lass uns in den See springen.« Ich ziehe mein Handy aus der Jackentasche, schalte es ein und richte es auf ihn. »Oder traust
du dich etwa nicht?«, frage ich spöttisch, während ich sein Gesicht heranzoome. »Hast du Angst? Und ich dachte, du wärst so
ein cooler Typ. Pia findet dich ziemlich süß, weißt du das?«
Auf dem Display sehe ich sein Gesicht. Es ist Jakob. Er
fährt sich durch die dunklen Haare. Zum ersten Mal erlebe ich ihn ratlos und das finde ich zum Schreien komisch. Jakob ratlos!
Was für ein Witz!
»Du bist betrunken«, stellt er fest. »Komm mit, ich bring dich nach Hause.«
»Okay«, sage ich. »Aber erst gehen wir schwimmen.«
Ich drehe mich um und renne los.
Und ich lache, lache, lache . . .
Als ich aufwachte, stand die Sonne ein ganzes Stück tiefer. Grillgeruch hing in der Luft, im Nachbargarten kreischten Kinder.
Doch der Traum wollte mich nicht loslassen. Nur ganz langsam glitt ich in die Wirklichkeit zurück. War es wirklich Jakob gewesen,
mit dem ich letzte Nacht durch den Wald gelaufen war? Oder vermischten sich meine Erinnerungen mit Traumgespinsten?
Und wenn ich einfach zu Jakob ging und ihn fragte, was letzte Nacht geschehen war? Er war schließlich der Einzige, der mir
Antworten auf meine Fragen geben konnte. Aber was sollte ich sagen?
Hör mal, Jakob, kann es sein, dass wir gestern betrunken durch den Wald gelaufen sind, du mich irgendwann in dein Auto gezerrt
hast und wir wilden Sex hatten? War bestimmt ein Mordsspaß, oder? Erzähl mir mehr davon, ich bin ganz Ohr . . .
Nein, das ging gar nicht. Selbst die quälendste Ungewissheit konnte nicht schlimmer sein als ein solches Gespräch . . .
Ich blinzelte und griff automatisch nach meinem Handy, um nach der Uhrzeit zu sehen. Doch meine Hosentasche war leer. Natürlich
war sie das. Shit! Meiner Mutter musste ich auch noch beichten, dass mein Handy futsch war. Sie würde nicht begeistert sein.
Das Handy war noch relativ neu gewesen und hatte eine Stange Geld gekostet, weil ich unbedingt eins mit einer vernünftigen
Auflösung haben wollte, um halbwegs akzeptable Filme machen zu können.
Plötzlich fiel mir etwas ein. Warum war ich nicht schon eher darauf gekommen? Ich sprang auf, rannte in den Flur, griff nach
dem Telefonhörer und wählte meine Handynummer. Vielleicht
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