Nachtsplitter
sichschon umdrehen und nach oben gehen, aber dann setzte sie sich neben mich aufs Sofa. »Entschuldige, dass ich heute Mittag so
heftig reagiert habe. In deinem Alter ist es ganz normal, dass man andere Dinge im Kopf hat als das Sonntagsessen.« Sie nahm
meine Hand und drückte sie. »Manchmal vergesse ich das.«
»Schon okay«, sagte ich.
Eine Weile saßen wir einträchtig schweigend nebeneinander. Auf dem Bildschirm flackerten stumm die Aufnahmen vom Unfallort
vorbei, die ich inzwischen in- und auswendig kannte.
»Weißt du eigentlich etwas über das verletzte Mädchen?«, fragte ich, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Im Fernsehen haben
sie gesagt, sie würde hier im Krankenhaus liegen.«
Mama nickte müde. »Ja, sie liegt auf meiner Station.«
»Wie geht es ihr?«
»Du weißt doch, dass ich über meine Patienten keine Auskunft geben darf.« Meine Mutter nahm ihre Schweigepflicht als Krankenschwester
sehr ernst. »Die Presse hat auch schon den ganzen Tag versucht, an Informationen zu gelangen. Ein Reporter hat es sogar bis
auf die Station geschafft. Fast hätte er sich mit seiner Kamera in Lenas Zimmer geschlichen. Ich hab ihn gerade noch rechtzeitig
an der Tür erwischt. Und natürlich achtkantig hinausbefördert.« Mama schüttelte den Kopf. »MancheMenschen haben wirklich überhaupt keine Skrupel. Dabei hat es das arme Mädchen auch so schon schwer genug.«
Lena, dachte ich. So heißt sie also.
»Wird sie durchkommen?«, fragte ich.
Mama seufzte und rieb sich die Augen. »Ja, vermutlich schon. Wenn es keine Komplikationen gibt.«
»Und dann muss ihr irgendjemand sagen, dass ihre Mutter nicht mehr lebt . . .«, murmelte ich.
Mama nickte. »Schrecklich, oder? Die arme Kleine. Und alles nur, weil irgendwelche Idioten eine Flasche von der Autobahnbrücke
geworfen haben. Wer tut denn so was? Vermutlich ein Betrunkener, der nicht eine Sekunde über die Folgen seines Handelns nachgedacht
hat. Das kann einen echt wütend machen!«
Ich starrte meine Mutter an. »Eine Flasche? Was für eine Flasche?«
»Jemand hat letzte Nacht eine Weinflasche von der Brücke geworfen«, erklärte meine Mutter. »Sie hat den Unfall ausgelöst.«
Ich schluckte. Sofort blitzte ein Bild in meinem Kopf auf. Pia, wie sie etwas aus ihrem Rucksack zog.
»Seht mal, was ich hier habe! Der gute Lambrusco vom Supermarkt. Möchte jemandeinen Schluck?«
Der gute Lambrusco vom Supermarkt. Wir hatten alle davon getrunken. Zuletzt Markus und ich, bevor wir uns gestritten hatten.
Was hatten wir mit der Flasche gemacht? Hatte ich sie mitgenommen, alsich weggerannt war? Nein. Hatte Markus sie mitgenommen? Möglich. Vielleicht hatten wir sie aber auch einfach auf der Brücke
stehen lassen.
Eine halb volle Flasche Rotwein.
»Woher weißt du das?«, fragte ich. Mein Mund war plötzlich trocken. »In den Nachrichten haben sie nichts davon gesagt.«
Meine Mutter gähnte wieder. »Rita hat es im Schwesternzimmer erzählt. Ihr Mann ist in der Ermittlungsgruppe oder wie man das
nennt.«
Rita war eine Kollegin meiner Mutter. Ihr Mann Karl war Polizist. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.
»Sag mal, warst du gestern nicht auch auf dem Festival?«, wollte Mama wissen.
Ich nickte abwesend. »Ja, aber ich hab nichts von dem Unfall mitbekommen. Pia und ich sind abgehauen, bevor es passiert ist.«
Meine Mutter schluckte die Lüge sofort und ich atmete auf. Vielleicht war sie auch einfach zu müde, um genauer nachzuhaken.
»Dann ist ja gut.« Sie stand schwerfällig auf, stützte die Hände in die Hüften und rieb sich das Kreuz. Sie wirkte wie eine
alte Frau. »Ich gehe schlafen. Morgen hab ich Frühschicht.« Sie fuhr mir zärtlich über die Haare.
»Nacht, Mama«, sagte ich.
»Gute Nacht, Jenny. Schlaf gut.« Sie ging aus dem Wohnzimmer.
Eine Weile starrte ich noch auf den stummen Bildschirm, auf dem sinnlose Bilder tanzten, dann schaltete ich den Fernseher
aus und beschloss, ebenfalls ins Bett zu gehen. Ich war todmüde.
11
In meinem Zimmer war es dunkel. Fast wäre ich über die leere Sektflasche gestolpert, die immer noch vor dem Spiegel auf dem
Boden stand. Ich hatte gestern Abend vergessen, sie wegzuräumen, bevor ich mit Pia zum Festival gefahren war.
Ich stellte die Flasche auf den Schreibtisch und grub meine nackten Zehen in die weichen Fransen des Flokati-Teppichs. Wenn
ich mein Handy noch gehabt hätte, hätte ich es jetzt wahrscheinlich herausgeholt und mir den Film angesehen, den ich
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