Nachtsplitter
braunen Haare lagen wie ein Fächer auf dem weißen Kopfkissen und sein Gesicht
war sehr bleich. Ich sah die Schläuche, die aus seiner Nase kamen, die vielen Maschinen, an die es angeschlossen war. Sie
zeichneten Kurven auf, summten oder piepsten leise.
Eine Krankenschwester trat aus dem Zimmer. Sie schloss die Tür, bevor sie mit ausgestreckter Hand auf mich zukam, um mich
zu begrüßen. »Hallo, Jenny! Wie nett, dass du uns mal wieder besuchst.«
»Hallo, Rita.« Ich schüttelte ihre Hand. »Ich wollte Mama abholen, aber sie ist noch beschäftigt.«
Rita seufzte. »Ja, ja, immer im Stress, deine Mutter. Sie sollte nicht so viele Überstunden machen, sonst ist sie bald völlig
ausgebrannt.«
»Das sage ich ihr auch immer.« Ich deutete auf das Zimmer, aus dem Rita gekommen war. »Warum liegt das Mädchen da drinnen
ganz alleine?«
Rita senkte die Stimme. »Das ist die kleine Lena. Das Mädchen, das bei dem schlimmen Unfall am Samstag seine Mutter verloren
hat. Sie ist fürs Erste über den Berg, aber sie braucht noch viel Ruhe. Außerdem sind hier in den letzten Tagen lauter Presseleute
herumgeschlichen und haben die Kinder ausgefragt, darum schirmen wir Lena lieber ein bisschen ab.«
Ich starrte immer noch auf die Zimmertür. »Ihr muss schrecklich langweilig sein, so ohne jeden Kontakt zur Außenwelt.«
»Ja, seit es ihr etwas besser geht, klagt sie zunehmend über Langeweile.« Rita lächelte. »Das ist ein gutes Zeichen. Ihr Vater
ist die meiste Zeit bei ihr, doch ab und zu braucht er auch mal eine Pause. Er ist gerade frische Luft schnappen gegangen.
Der arme Mann ist völlig fertig mit den Nerven. Der Tod seiner Frau nimmt ihn sehr mit. Aber er kümmert sich trotzdem rührend
um die Kleine.«
Rita schien es mit ihrer Schweigepflicht nicht so genau zu nehmen. Und das nutzte ich gnadenlos aus.
»Weiß sie schon . . . dass ihre Mutter nicht mehr lebt?«, fragte ich weiter.
»Nein. Sie ist noch nicht stark genug für so eine schlimme Nachricht.« Rita schüttelte traurig den Kopf. »Aber früher oder
später muss ihr Vater es ihr natürlich sagen. Ich hoffe, sie verkraftet es einigermaßen. Lena ist ein zähes Mädchen. Sie lässt
sich nicht so leicht unterkriegen. Und sie hat wirklich wahnsinniges Glück gehabt, dass sie den Unfall ohne bleibende Schäden
überlebt hat. Das grenzt fast an ein Wunder. Aber sie wird sicher noch eine Weile hierbleiben müssen.« Rita warf einen Blick
auf ihre Armbanduhr. »Ich muss los, hab gleich Feierabend. Mach's gut, Jenny!« Sie verschwand im Schwesternzimmer.
Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken. Plötzlich musste ich an den Abend denken, als mein Vater zusammengebrochen war. Er war
beim Abendessen einfach weggesackt. Als wäre er von einer Sekunde auf die andere eingeschlafen. Ich dachte, er würde nur Spaß
machen, und kicherte. Erst als meine Mutter aufsprang, kreidebleich, und verzweifelt versuchte, ihn wiederzubeleben, wurde
mir klar, dass es kein Spaß war.
Im Krankenhaus mussten wir lange warten. Meine Großeltern waren da und meine Tante, alle waren sehr ernst. Oma weinte. Mama
wollte, dass ich mit meiner Tante nach Hause ging, es war schon spät. Ich konnte die Augen kaum noch offen halten, aber ich
wollte nicht weg. Ich blieb störrisch an Mamas Seite sitzen und hielt ihre Hand ganz fest, weil ichschreckliche Angst hatte, sie könnte auch noch verschwinden.
Als der Arzt endlich kam, war ich gerade eingeschlafen. Im Halbschlaf hörte ich, wie er etwas sagte. Plötzlich weinten alle,
sogar Opa. Ich verstand erst viel später, was genau passiert war. Aber bereits in diesem Moment wusste ich ganz genau, dass
ich meinen Vater nie wieder sehen würde.
»Jenny!« Meine Mutter kam über den Flur. »Tut mir leid, dass du warten musstest.« Sie stutzte. »Weinst du?«
»Nein.« Ich fuhr mir schnell über die Augen. »Sag mal, steht mein alter Kassettenrekorder eigentlich noch im Keller? Mit den
Hörspielkassetten, die ich früher rauf und runter gehört habe?«
Mama sah mich etwas ratlos an. »Ich weiß nicht so genau. Gut möglich. Warum?«
»Nur so.« Ich lächelte. »Ich möchte ihn jemandem schenken.«
6
»Was nimmst du? Vielleicht ein Eis? Such dir ruhig was Leckeres aus.« Meine Mutter hielt mir die Eiskarte hin. Wir waren ein
bisschen durch die Stadt gebummelt, hatten nach Schnäppchen Ausschau gehalten,aber nichts gekauft. Luftshoppen nannte Mama das. Jetzt saßen wir vor dem Eiscafé am Marktplatz in
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