Nachtsplitter
Flasche segelt durch die Luft, dreht sich einmal um die eigene Achse. Wein spritzt heraus, rot wie Blut, während die Flasche
fällt und fällt, bis sie eins wird mit der Dunkelheit . . .
Ich stand auf, ging in den Flur und wählte mit zitternden Fingern Pias Nummer. Sie meldete sich beinahe sofort, als hätte
sie auf meinen Anruf gewartet.
»Hast du schon Zeitung gelesen?«, fragte ich statt einer Begrüßung.
»Nein. Wieso?«
»Sie haben die Flasche rekonstruiert. Es ist ein Lambrusco vom Supermarkt.«
»Na und?«
»Na und?« Meine Stimme klang schrill. »Das ist genau der Wein, den wir auf der Autobahnbrücke getrunken haben.«
»Ja, und außer uns wahrscheinlich noch zig andere Leute«, erwiderte Pia seelenruhig. »Mensch, Jenny, jetzt reg dich doch nicht
so auf. Den Wein kauft unsere halbe Schule, weil er billig ist und trotzdem halbwegs schmeckt.«
»Das kann doch kein Zufall sein«, beharrte ich störrisch. »Was, wenn es unsere Weinflasche war, die den Unfall ausgelöst hat?«
»Dann ist das zwar tragisch, aber leider nicht mehr zu ändern. Was können wir dafür, wenn irgendein Idiot halb volle Flaschen
von der Brücke wirft? Ich hab jedenfalls keine Lust, mir jede Menge Ärger einzuhandeln, nur weil ich vergessen habe, eine
Glasflasche in den Müll zu werfen.«
Pias Stimme klang endgültig, aber ich ließ nicht so schnell locker. »Wir sollten trotzdem zur Polizei gehen und eine Zeugenaussage
machen. Vielleicht haben sie sogar unsere Fingerabdrücke auf der Flasche gefunden.«
»Ein Grund mehr, sich aus der Sache rauszuhalten.Mensch, Jenny, denk doch mal nach! Dieser Oberpolizist macht doch einen Luftsprung vor Freude, wenn wir uns freiwillig melden.
Die Öffentlichkeit sitzt ihm im Nacken, die Presse und bestimmt auch irgendwelche Politiker. Er braucht dringend einen Verdächtigen.
Ein paar Jugendliche, die auf der Brücke gesoffen haben, kommen ihm da gerade recht. Der lehnt sich zufrieden zurück und hängt
uns die Sache an.«
»Das glaub ich nicht«, sagte ich, obwohl ich insgeheim zugeben musste, dass an ihrer Argumentation etwas dran war. Trotzdem
ärgerte ich mich über ihre abgeklärte Art. Warum konnte Pia die Sache einfach so abtun, während ich hier herumsaß und mir
das Gehirn zermarterte? Oder war das alles nur Show? Wollte sie mit ihrem coolen Getue von etwas anderem ablenken?
Zum Beispiel von der Wahrheit?
»Wir haben das doch schon ausführlich besprochen«, sagte Pia. »Wenn wir schön den Mund halten, passiert uns auch nichts. Schließlich
hat keiner von uns die Flasche geworfen, oder?«
»Nein, natürlich nicht.« Doch die Zweifel ließen sich nicht so einfach abstellen. »Warst du eigentlich später am Abend noch
mal auf der Brücke?«
Pia seufzte. »Nein. Ich hab dir doch schon alles erzählt. Erst hab ich mit Jakob gequatscht, dann sind Marie und Lara aufgetaucht
und Jakob ist abgehauen. Als ich ihn nicht mehr finden konnte, bin ichzur Bühne gegangen und hab mir die Band angehört.«
»
XXL
?«, fragte ich.
»Genau. Die waren gar nicht schlecht. Die Leute sind total abgegangen.«
»Dann müsstest du doch eigentlich Markus gesehen haben. Er war auch vor der Bühne.«
»Markus? Nein. Vielleicht war er irgendwo auf der anderen Seite. Du glaubst ja nicht, was da los war. Es war supervoll. Der
reinste Hexenkessel. Und nach dem Konzert bin ich überall herumgerannt und hab dich gesucht. Wenn wir schon dabei sind, den
Abend zu rekonstruieren: Wo hast du eigentlich die ganze Zeit gesteckt?«
Ich zögerte. Wenn ich die Wahrheit von Pia erfahren wollte, musste ich auch mit offenen Karten spielen. Außerdem war sie meine
beste Freundin. Ich konnte ihr vertrauen.
Oder?
»Ich . . . ich bin zum Festivalplatz gegangen«, begann ich stockend. »Nach dem Streit mit Markus. Ich war ziemlich fertig
und hab dich überall gesucht. Aber ich konnte dich nicht finden. Stattdessen bin ich Jakob über den Weg gelaufen.« Ich wartete,
aber Pia sagte nichts. »Ich dachte, du wärst bei ihm. Aber er war allein. Wir haben ein Bier zusammen getrunken. Und dann
noch eins . . . Später kam noch ein anderer Typ dazu. Ich glaube, Jakob kannte den irgendwoher . . .«
Jetzt konnte Pia sich nicht mehr zurückhalten. »Du bist mit
Jakob
abgestürzt?«
»Na ja, irgendwie schon«, gab ich zu.
»Also hab ich doch recht gehabt«, stellte Pia schnippisch fest. »Ich wusste, dass was zwischen euch läuft! Zumindest muss
ich mir jetzt nicht mehr den Kopf darüber
Weitere Kostenlose Bücher