Nachtstürme - Peeler, N: Nachtstürme - Tempest Rising
Auffahrt entlangfahren hörte. Kurz darauf kam mein Vater durch die Hintertür ins Haus und gab mir zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange.
»Du bist früh zurück«, stellte er fest und bemerkte dann erst, dass ich nicht meine übliche Arbeitskleidung trug. »Und du siehst hübsch aus!«
»Ja, Grizzie hat mich heute schon um vier gehen lassen«, sagte ich verlegen und tat so, als sei ich vollauf damit beschäftigt, zu prüfen, ob die Lasagne schon durch war. Sie brauchte noch eine gute Viertelstunde, also schob ich sie zurück in den Ofen.
»Jemand aus der Uni ist heute im Read it and weep aufgetaucht. Wir gehen essen und quatschen ein bisschen über alte Zeiten«, fuhr ich halbherzig fort.
»Oh, wie nett«, erwiderte mein Vater etwas verwundert. Ich hatte nur ein Teilzeit-Bachelorstudium im Fach Englisch an der Universität von Maine in Machias absolviert. Der Ort war nur etwa eineinhalb Stunden von Rockabill entfernt. Zweimal die Woche war ich dorthin gependelt, weil ich es mir nicht leisten konnte, am Campus zu wohnen. Nicht, dass ich das überhaupt gewollt hätte. Nur etwa zwei Wochen hatte ich es geschafft, anonym zu bleiben, bis irgendjemand schließlich die Verbindung hergestellt hatte, und das Flüstern hinter vorgehaltener Hand anfing und man immer öfter mit dem Finger auf mich zeigte. Es war zwar bei weitem nicht so schlimm wie in Rockabill in den Jahren nach dem »Unfall«, aber angenehm war es trotzdem nicht gerade. Ich fühlte mich abgestempelt und unternahm von da an keine großartigen Versuche mehr, Freundschaften zu schließen. Meine Lehrer waren nett zu mir - abgesehen von der Tatsache, dass meine Akte wahrscheinlich ein Kommentar in der Art »Achtung: labil!« zierte. Und es gab sogar ein paar Mädchen, mit denen ich hin und wieder einen Kaffee trank oder zu Mittag aß. Aber ich musste immer darauf achten, dass wir uns nicht so nahe kamen, dass sie es wagten, mich zu fragen, was wirklich passiert war. Ich
hätte ihnen auf keinen Fall die Wahrheit sagen können, und ich wollte auch nicht lügen müssen, also musste ich Abstand halten. Deshalb fand ich an der Uni keine richtigen Freunde - diese Tatsache zog sich eigentlich wie ein roter Faden durch mein ganzes Leben.
Es war also nicht erstaunlich, dass mein Vater etwas verwundert war.
»Nun, ich freue mich, dass du heute Abend ausgehst und dich mit jemandem von der Universität triffst. Das ist wirklich großartig«, sagte er und nickte zustimmend vor sich hin. »Du solltest sowieso öfters ausgehen.«
Verlegen machte ich mich daran, ein paar Gläser abzuwaschen, die in der Spüle standen. Ich konnte meinem Vater nicht in die Augen schauen. Ich konnte nicht glauben, dass er es nicht komisch fand, dass ich nie Freunde aus der Uni erwähnt hatte und nun behauptete, jemand sei ausgerechnet in Rockabill aufgetaucht. Ich fragte mich, ob ich, ohne es zu wissen, eine Aura besaß. Aber dann dachte ich über die Reaktion meines Vaters nach und darüber, was Ryu über das menschliche Gehirn und seinen Hang dazu, Lücken mit Sinn zu füllen, gesagt hatte. Mein Vater brauchte keine Aura, um mich glücklich sehen zu wollen.
»Ich habe einfach alles verbockt«, dachte ich wütend und schrubbte an einem bereits blitzsauberen Glas herum.
Als ich bemerkte, was ich tat, zwang ich mich dazu, das Glas mit klarem Wasser zu spülen und es auf das Abtropfgitter zu stellen. Als ich mich zu meinem Vater umdrehte, hatte ich mich wieder im Griff und konnte mir sogar ein Lächeln abringen. Er saß am Küchentisch und sah mich schweigend an.
»Ja, wahrscheinlich hast du Recht«, sagte ich zu ihm. »Ich sollte wirklich mehr ausgehen.«
»Mit wem triffst du dich denn?«, hakte mein Vater nach.
»Sein Name ist Ryu«, antwortete ich.
»Oh, es ist also ein Mann«, erwiderte mein Vater fast vergnügt. Ich wurde rot.
»Ja, ein Mann. Aus der Uni.«
»Und sein Name ist Ryu?«
»Ja, Ryu.«
»Ryu wie Kängu-ru?«
»Ja, wahrscheinlich. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, wie man das genau schreibt.«
»Hübsch. Ist es vielleicht sein Familienname?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber ich nehme mal an.«
»Apropos Familie«, dachte ich. »Was ist Ryu überhaupt?«
»Was macht er denn so?«, wollte mein Dad wissen und riss mich damit aus meinen Gedanken.
»Äh, er ist Ermittler.«
»Ah, okay. Bei der Polizei also?«
»Ich weiß nicht genau. Ich glaube, er ist eher eine Art Privatdetektiv«, antwortete ich ausweichend.
»Ah, ein Schnüffler also. Das ist sicher
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