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Nachtzug

Titel: Nachtzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood , Gareth Wootton
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wertvollen Informationen verfahren, die er über die Partisanen sammelte? Was erwartete das Oberkommando?
    Aber etwas anderes bedrückte den Kommandanten von Sofia viel mehr. Dieter Schmidt hatte niemals in seinem Leben persönlich mit Fleckfieber zu tun gehabt.
    {225} Zwei Monate war es schon her, daß Hans Keppler gestorben war, doch Anna Krasinska trauerte immer noch.
    In diesen unseligen Zeiten des Krieges und der Besatzung durch die Deutschen hielt man seine Gefühle im Zaum und ließ sich von nichts berühren. Aber Anna hatte den Fehler begangen, sich von der entwaffnenden Art Hans' bereits nach einigen Tagen einnehmen zu lassen, und sich in ihn verliebt. Sie hatten nie ein Wort darüber verloren, und doch war Anna sicher, daß Hans dieselben Gefühle für sie gehegt hatte.
    Aber jetzt war es zu spät, und in ihrer Einsamkeit und Trauer hatte Anna es sich angewöhnt, zweimal täglich die Sankt-Ambroż-Kirche aufzusuchen. Jeden Morgen und jeden Abend warf sie sich vor der Heiligen Jungfrau Maria auf die Knie, entzündete eine Kerze und betete einen Rosenkranz für die Seele des einzigen Mannes, den sie je geliebt hatte. Und sie schwor sich im Angesicht der Jungfrau Maria, daß sie keinen Mann mehr so lieben würde wie Hans Keppler.
    In den letzten Tagen hatte sich Anna allerdings zunehmend unwohl gefühlt, wenn sie friedlich vor der Mutter Gottes kniete und ihre Gebete sprach. Sie hatte sich mehrere Male aus ihrer Versenkung gelöst und ihren Blick rasch umher schweifen lassen, aber sie war stets alleine gewesen. Dennoch konnte sie sich nicht der unbestimmten, ja schauerlichen Ahnung erwehren, daß jemand sie beobachtete.
    Und heute beschlich sie dieses Gefühl erneut.
    Die Perlen zwischen den Fingern, kniete sie in der Kapelle der Heiligen Jungfrau nieder und flüsterte und murmelte. »Heil dir Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit …«
    Das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde jetzt stärker. Langsam und unheimlich bewegte sich etwas in den Schatten, die sie umgaben. Heimtückischen Nebelschwaden gleich kroch es um die Säulen und drohte sie zu verschlingen, so daß sie sich gezwungen sah, ihren Rosenkranz zu beenden. Irgend jemand war in der Nähe. Heute spürte sie es stärker als jemals zuvor. Anna starrte auf die Perlen ihrer Gebetskette, die einst ihrer Großmutter gehört hatten und die mit den Jahren erst geschmeidig geworden waren. Es handelte sich um kostbare, importierte Perlen, deren Verbindungen aus reinem Silber waren. Sie blickte auf.
    Ein Schatten verlor sich in der tiefen Finsternis, aber nicht schnell {226} genug, als daß sie nicht die auffällige braune Kutte, die schlaff ins Gesicht hängende Kapuze und die unter den langen Ärmeln verschränkten Hände bemerkt hätte.
    Anna blickte wieder auf ihre Perlen und versuchte erneut, fast zitternd, mit ihrem Rosenkranz fortzufahren, wo sie ihn unterbrochen
     hatte.
    »Geheiligt sei dein Name, dein Reich komme, wie im Himmel so auf …«
    Erneut liefen ihr Schauer über den Rücken.
    Er war dort, beobachtete sie. Es war der komische Mönch, der Taubstumme, dessen traurige Geschichte fast jeder Kirchgänger von Sofia kannte. Wie er dem harten Winter getrotzt hatte, um vor den Deutschen zu fliehen, die sein Kloster zerstört und seine Brüder ermordet hatten. Wie er schließlich zu Pfarrer Wajda gekommen und von diesem aufgenommen worden war.
    Aber warum spionierte er sie aus?
    Anna drehte sich zum zweitenmal um, und dieses Mal zog sich der Mönch zu ihrer Überraschung nicht in den Schatten zurück. Reglos und schweigend stand er da, eingetaucht in das irreale Licht der Kerzen wie eine Geisterscheinung, und starrte sie an.
    Auch sie konnte ihren Blick nicht von seiner Gestalt lösen, die sie an ein Gespenst aus finstersten Zeiten erinnerte.
    Eine scheinbar unendlich lange Zeit blickten sie sich so an, und als der Mönch endlich einen Schritt auf sie zutat, sprang sie sofort auf.
    »Was wollen Sie?« flüsterte sie und umgriff den Rosenkranz so fest, als wäre er ein Schutzschild.
    Der Mann entgegnete nichts, sondern bewegte sich fast schwebend auf sie zu. Sie blieb wie angewurzelt stehen und überlegte, ob sie schreien sollte. Da streifte der stumme Mönch plötzlich die Ärmel seiner braunen Kutte zurück, bewegte die Hände zum Kopf und zog seine Kapuze nach hinten.
    Sie starrte ihn ungläubig an.
    Ihr Blick wanderte von der Tonsur auf seinem Schädel zum Gesicht, das sie kaum erkennen konnte. Es wirkte dünn und bleich, und der Bart, den der

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