Nachtzug
Licht aus dem Ne {231} benraum ließ ihre Tränen glänzen. »Und nichts wird je etwas daran ändern. Niemals,
moy kochany.
Ja, ich liebe dich um so mehr, als du den Mut hattest, dich aus diesem Alptraum zu lösen und dich zu offenbaren. Und dafür, daß du dein Leben riskierst, um diese Stadt zu retten … O Hans!« Anna beugte sich zu ihm herunter und küßte ihn auf den Mund.
Hans umarmte sie und zog sie an sich. Er spürte, wie die Leidenschaft erneut in ihm erwachte, und zitterte vor Verlangen, als er sie in seinen Armen hielt. Aber als sie versuchte, sich von ihm zurückzuziehen, ließ er sie los. Reden war jetzt genauso wichtig wie der Austausch von Zärtlichkeiten. »Du hast so lange geschwiegen«, flüsterte er.
Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen und schüttelte den Kopf.
»Aus anderen Gründen,
moy kochany
Hans. Ich habe über das nachgedacht, was du mir erzählt hast. Über das Lager.«
»Nein …«
»Laß mich jetzt sprechen, Hans. Ich hatte keine Vorstellung, ja wirklich nicht den Hauch einer Ahnung, daß solche Dinge geschehen. Und dennoch glaube ich, daß du mir die Wahrheit erzählst. Ich glaube dir, und gleichzeitig tue ich es nicht. So habe ich noch nie empfunden.«
»Anna, als ich in Auschwitz war, habe ich auch meinen Augen geglaubt und gleichzeitig gezweifelt. Ich weiß, was in dir vorgeht.«
»Aber …« Sie überlegte angestrengt. »Was ich nicht verstehe, ist die Endlösung, die du erwähnt hast. Was ist das? Und … warum gibt es sie?«
Keppler wandte sein Gesicht ab und richtete den Blick auf das kleine Nachttischschränkchen, in dem seine Großmutter einst einige persönliche Dinge aufbewahrte. Er griff nach den Zigaretten. Während er eine anzündete und den Rauch in die Finsternis blies, erklärte er: »Was es damit genau auf sich hat, weiß ich auch nicht. Wozu ich aber in diesem Zusammenhang etwas sagen kann, das sind die Dinge, die ich persönlich kennengelernt habe. Die Konzentrationslager.«
Er zog noch einmal an der Zigarette, stieß den Rauch aus und überlegte seine nächsten Worte. »Bevor Polen erobert wurde, versuchte man, die Juden aus Deutschland zu vertreiben. Wußtest du das?«
»Ich habe davon gehört. Vor allem von Juden, die nach Sofia kamen.«
{232} »Das Reich wollte keine Juden auf seinem Gebiet und entfernte sie deshalb systematisch nach sorgfältig ausgearbeiteten Plänen aus Deutschland. Viele Juden gingen nach Amerika oder England. Aber die meisten kamen hierher, Anna, nach Polen oder Rußland; fast alle deutschen Juden hat man in unser kleines Land getrieben. Nun, nachdem der Plan ausgeführt war, gliederte Hitler neue Gebiete wie Westpolen ins Reich ein, und so entstand erneut das Problem, was man mit den Juden anfangen sollte. Es schien so, daß sich mit jeder Ausdehnung des Reiches die Judenfrage immer wieder aufs neue stellte.«
Er zog noch ein paarmal an der Zigarette und drückte sie dann auf dem kleinen Teller aus, den er als Aschenbecher benutzte. Dann fuhr er mit ernster Stimme fort. »Vorher hatten die Deutschen den Juden helfen wollen, Deutschland zu verlassen. Himmler hat sogar einige Zeit mit dem Gedanken gespielt, Madagaskar für sie als Zufluchtsstätte zu wählen, wie ein Reservat für die amerikanischen Indianer. Zu dieser Zeit stellte die Gestapo Visa aus, sorgte für den Transport und bezahlte in einigen Fällen sogar die Reisekosten. Aber dann erweiterten sich die Grenzen des Reiches, so daß sich immer mehr Juden inmitten einer Nation befanden, die sie nicht wollte. Und so kam die Frage auf, was man mit dieser großen Anzahl unerwünschter Menschen anfangen sollte. Es war einfach nicht mehr möglich, sie in andere Länder abzuschieben.« Trotz des fahlen Lichts konnte Anna sehen, daß Hans kreidebleich war. Er setzte seine Erklärungen fort. »Hitler und seine Leute trafen sich zu einer Konferenz, um sich mit dem Problem zu befassen, und so kam es schließlich zur Endlösung.« Keppler blickte Anna jetzt direkt in die Augen. »Liquidierung.«
»Es ist zu grausam, um es sich vorzustellen«, entgegnete sie mit schwacher Stimme.
»Die SS bekam den Auftrag, den Plan auszuführen. Und die SS betrachtete diese Aufgabe nicht als Pflicht,
moja kochana,
sondern als Privileg.«
»Aber wie viele Juden wollen sie denn auf diese …?«
Jetzt legte er ihr einen Finger auf die Lippen, seine Gesichtszüge waren schmerzverzerrt. »Nicht nur Juden, Anna, sondern alle, die das Reich für Untermenschen hält. Auch die Polen gehören
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