Nachtzug
verständnisvoll und bedauerte nur, daß Hans mit dem Problem nicht eher zu ihm gekommen war.
Bei der nächsten Zusammenkunft der vier in der Krypta der Kirche brachte Jan Szukalski einen Gast mit.
»Sie kann uns nützlich sein«, erklärte Szukalski den anderen, als sie inmitten der Sarkophage im Kreis saßen. »Maria und ich riskieren jedesmal Kopf und Kragen, wenn wir etwas aus dem Laboratorium schmuggeln. Anna wird es unauffälliger tun können, und außerdem kann sie noch anderes aus dem Krankenhaus beschaffen. Ich werde sie in die Fleckfieber-Abteilung versetzen. Auf Dauer ist es verdammt schwer, die vorgetäuschten Krankheitssymptome so aufrechtzuerhalten, daß die Krankenschwestern keinen Verdacht schöpfen. Wenn Anna erst einmal auf der Station arbeitet und diese Aufgabe übernimmt, werden wir eine Sorge weniger haben.«
Szukalskis Stimme klang leise und beruhigend. »Hans, ich hoffe, daß Sie uns künftig größeres Vertrauen entgegenbringen. Sollten wieder irgendwelche Probleme auftreten, dann müssen Sie uns sofort benachrichtigen. Ich bitte Sie nur um eines. Wenn Sie wieder zum Haus Ihrer Großmutter gehen, dann sagen Sie Pfarrer Wajda unbedingt vorher Bescheid. Und lassen Sie ihn auch wissen, wann Sie wieder zurück sind.«
Nachdem sie gefunden hatte, wonach sie suchte, verbarg Anna den Gegenstand unter ihrem Mantel, schlich zur Labortür, öffnete sie einen Spalt und spähte hinaus in die Halle. Alles war dunkel und menschenleer. Leise schlüpfte sie hinaus, schloß die Tür hinter sich und eilte durch den Korridor zum Ausgang. Rudolf Bruckner, der wieder in seinem Versteck unter der Treppe kauerte, richtete sich auf und folgte ihr.
Ein leichter Aprilregen setzte ein, als Bruckner hinaustrat. Er blieb stehen, um seinen Mantelkragen hochzuschlagen und dem Mädchen Zeit zu geben, einen Vorsprung zu gewinnen. Er steckte die Hände in die Taschen seines Trenchcoats. Das Metall der Pistole, die er vom {242} Sicherheitsdienst erhalten hatte, fühlte sich kalt an. Dann ging er der jungen Frau in einem Abstand von hundert Metern unauffällig nach.
Anna lief in raschem Tempo und warf gelegentlich einen Blick über die Schulter. Die Straßen waren naß und schlüpfrig und um diese Zeit wie ausgestorben. Anna bemerkte den Mann nicht, der ihr im Schutze der Dunkelheit folgte, und lief zielbewußt über den Marktplatz auf die Kirche zu. Sie warf einen schnellen Blick hinter sich auf das Rathaus, sah aber keine Wachen davor stehen. Nur wenige Fenster waren erleuchtet. Seit Ausbruch der Epidemie vor drei Monaten hatten die Besatzungstruppen ihre Präsenz spürbar eingeschränkt. Rudolf Bruckner wahrte den Abstand zwischen sich und der jungen Frau. Er folgte ihr nicht über den freien Platz, sondern trat in eine Einfahrt, um zu sehen, wohin sie ging. Etwas überrascht beobachtete er, wie sie die Treppe von Sankt Ambroż hinaufeilte, das schwere Portal aufzog und in die Kirche schlüpfte. Da er annahm, daß sie hineinging, um eine Kerze anzuzünden oder kurz mit dem Priester zu sprechen, verharrte Bruckner im Schutz der Einfahrt, zündete sich eine Zigarette an und wartete darauf, daß das Mädchen wieder herauskam.
Doch als er nach einer Weile vom Stehen kalte Füße bekam, beschloß er, einen Blick in die Kirche zu werfen und nachzuschauen, was sie dort eigentlich tat. Er war sich ganz sicher, daß sie einen Gegenstand aus dem Laboratorium entwendet hatte, den sie unter dem Mantel versteckt hielt. Ganz langsam zog er das mächtige Eichenportal auf, schlich ins Innere des Gotteshauses und versteckte sich sofort hinter einer Säule. Er spitzte die Ohren und blickte angestrengt in das Kirchenschiff. Außer ein paar flackernden Kerzen und den großen Blumensträußen, die den Altar schmückten, konnte Bruckner in der Kirche nichts erkennen.
Er stahl sich hinüber zu einem Seitenschiff und ging dort langsam in Richtung Apsis; dabei hielt er die Pistole in seiner Manteltasche fest umklammert. Schweißperlen traten ihm auf die Oberlippe, und vor Aufregung bekam er Herzklopfen.
Wenige Meter vor der Tür zur Sakristei blieb er stehen, drückte sich gegen die kalte Steinwand und lauschte. Kein Laut war zu hören, nicht die leiseste Bewegung.
{243} Mit angehaltenem Atem näherte er sich langsam der Sakristeitür, bis er davorstand. Vorsichtig drückte er die Tür auf, beugte sich ganz leicht vor und spähte hinein.
Die Sakristei war leer.
Seine Finger schlossen sich fest um die Pistole, als er den kleinen Raum
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