Nachtzug
genau sagen, wofür, aber ich bin Laborant und erkenne auf den ersten Blick, wenn ich Fläschchen mit Impfstoff vor mir habe.«
Er musterte die Gesichter der beiden und versuchte, sich einen Reim auf all das zu machen. Und plötzlich erkannte er die Zusammenhänge. Die merkwürdigen Aktivitäten von Dr. Szukalski und Dr. Duszynska. Die Proteus-Kultur. Diese angebliche Fleckfieberepidemie, die noch kein einziges Todesopfer unter den Leuten gefordert hatte, die er persönlich kannte.
Er blickte den Mönch argwöhnisch an. »Kenne ich Sie nicht irgendwoher?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich bin ein Flüchtling.«
»Ach, ja …« Bruckner dachte einen Augenblick nach und versuchte sich an die Geschichte zu erinnern, die er über einen Mönch gehört hatte, der in der Kirche Sankt Ambroż Zuflucht gesucht hatte. Dann lachte er kurz auf. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Der Taubstumme!«
Anna und Hans tauschten Blicke aus.
»Jetzt weiß ich, wer Sie sind«, fuhr Bruckner fort und grinste hämisch. »Sie sind dieser SS -Mann, der sich um die Weihnachtszeit hier herumgetrieben hat. Derjenige, der angeblich an Fleckfieber starb. Da sieh mal einer an …« Er nickte mit unerträglicher Selbstgefälligkeit und wich einen Schritt in Richtung Treppe zurück. »Das ist ja hochinteressant! Sehr einfallsreich, das mit der Fleckfieberepidemie! Ich bin sicher, der Hauptsturmführer wird sich brennend dafür interessieren. Er liebt das Geheimnisvolle! Ein SS -Deserteur, der ein Mönch geworden ist. Und eine vorgetäuschte Fleckfieberepidemie! Heute scheint wirklich mein Glückstag zu sein!«
Das höhnische Grinsen wich aus seinem Gesicht, als er mit der Pistole auf die Treppe wies. »Los!« bellte er. »Vorwärts! Wir drei machen jetzt einen kleinen Spaziergang über den Marktplatz und statten dem Kommandanten einen Besuch ab.«
{246}
Ding … dong …
Der alte Żaba lag zusammengekrümmt auf seiner Strohmatte, hielt sich die Ohren zu und stöhnte im Schlaf. Er hatte einen bösen Traum.
Dong …
Die schweren Glocken der Kirche schollen durch die Nacht wie ein gespenstisches Höllengeläut, das von jeder Spitze, von jeder Kreuzblume und von jedem Stützpfeiler des gotischen Mauerwerks widerhallte. Żaba stöhnte abermals und schlug die Augen auf. Er zwinkerte ein paarmal im Rausch und versuchte, seinen Blick auf das niedrige Blechdach seiner kleinen Hütte zu richten und sich zu erinnern, wo er war.
Als das düstere Läuten endlich in sein wodkagetränktes Bewußtsein vordrang, stöhnte der alte Küster erneut und wälzte seinen mißgestalteten Körper aus dem Bett. Während er in seine einzige Hose schlüpfte und einen Mantel über sein Flanellhemd warf, murmelte er: »Diese Bälger! Diesmal verpasse ich ihnen eine Tracht Prügel, die sie nicht so schnell vergessen werden! Sie wecken ja wahrhaftig die ganze Stadt!« Brummend fuhr er mit nackten Füßen in seine schmutzigen alten Schuhe und schlurfte mit offenen Schnürsenkeln aus der Wellblechhütte in die Nacht hinaus.
Der Küster neigte seinen verkrümmten Körper in die Richtung, die er seit jeher gewohnheitsmäßig einzuschlagen pflegte, und reckte den Hals, um an der Rückseite der Kirche emporzuschauen. Angestrengt blickte er zu den spitzen Türmen auf, die sich gegen den bedeckten Himmel abzeichneten. Die Glocken klangen jetzt lauter. Sie läuteten langsam und feierlich in dem würdevollen Rhythmus, den Żaba gewöhnlich Totenmessen vorbehielt.
Er fluchte ärgerlich vor sich hin. Nachdem er aus seiner Hütte eine Kerosinlaterne geholt und sie mit einem Streichholz angezündet hatte, eilte er in die Kirche, so schnell seine krummen Beine ihn trugen.
Drinnen wirkte das Glockengeläut noch lauter. Es hallte an den Wänden wider und erfüllte das hohe Gewölbe mit einem schaurigen Getöse.
»Sie werden die ganze Stadt aufwecken!« brummte er, während er mühsam durch das Seitenschiff zum vorderen Teil der Kirche {247} schlurfte, wo der Glockenturm stand. Das Licht seiner Laterne warf unheimliche Schatten an die Wände. Żabas groteske Gestalt tanzte geisterhaft über den grauen Stein. »Sie plagen mich mit ihren Streichen! Aber diesmal sind sie entschieden zu weit gegangen. Um zwei Uhr morgens meine Glocken zu läuten.«
Als er die Tür zum Glockenturm erreicht hatte, stellte er fest, daß sie angelehnt war.
Die Glocken läuteten langsam weiter.
Aha! dachte er zornentbrannt. Sie sind also immer noch da drinnen! Ich habe sie auf frischer Tat
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