Nachtzug
Szukalski geleitet, der mit fünfundzwanzig Jahren und nach zweijähriger Aufsichts- und Forschungstätigkeit an einem Krankenhaus in Krakau die Nachfolge des mit achtunddreißig Jahren verstorbenen vormaligen Krankenhausdirektors angetreten hatte.
Das Pflegepersonal arbeitete gerne unter Szukalski und schätzte seine Gerechtigkeit und Leidenschaft, mit der er seinen medizinischen Scharfsinn einsetzte. Obwohl Jan Szukalski von Natur aus eher zu nüchtern und distanziert war, um viele Freunde zu gewinnen, galt er dennoch als freundlich und überaus großmütig, und eben weil ihm dieser Ruf als reservierter, über den Dingen schwebender Mensch vorauseilte, bemerkte an diesem Morgen niemand, daß der Krankenhausdirektor ungewöhnlich besorgt war.
Niemand bis auf seine Stellvertreterin.
Maria Duszynska hatte während der Visite, als sie gemeinsam mit ihm Verbände wechselte, Pflegeanweisungen erteilte, Medikamente verordnete und genesene Patienten entließ, deutlich gespürt, daß ihr Chef sich nicht wohl fühlte, und deshalb war sie auch nicht überrascht gewesen, als er sie nach der Visite zu sich ins Büro bat.
Nachdem er die Tür abgeschlossen hatte, damit sie während ihrer Unterredung nicht gestört würden, schickte er seiner Erklärung warnende Worte voraus, mit denen er die Notwendigkeit absoluter Diskretion betonte. »Maria, niemand, keiner der anderen Ärzte, keine Schwester und nicht einmal Ihr Freund Max, nicht eine einzige Person darf etwas von dem erfahren, was ich Ihnen anvertrauen werde.«
Zuerst hatte sie sein ernster Tonfall gewundert, doch als sie die vollständige Geschichte von Hans Keppler und Szukalskis Problem, einen geeigneten medizinischen Vorwand für ihn zu finden, gehört hatte, da begriff Maria das Ausmaß seiner Besorgnis.
Fast eine Stunde war sie nun seinem Bericht gefolgt, und ihr Gesicht war dabei immer mehr erbleicht.
Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten, beugte Szukalski sich über den Tisch und blickte sie eindringlich an. »Wenn mir nicht eine hundertprozentig sichere Entschuldigung für Keppler einfällt, werde ich es nicht versuchen. Aber bitte denken Sie darüber nach, Maria. Ich vertraue Ihnen und bin auf jede Hilfe angewiesen.«
{108} Sie starrte ihn grübelnd an, ihre Gesichtszüge wirkten angespannt.
»Es gibt eine Menge Krankheiten, die einen ausreichenden Grund darstellen, um jemanden vom Militärdienst freizubekommen, aber alle lassen sich durch Laboranalysen überprüfen. Eine Krankheit können wir vortäuschen, nicht aber Laboruntersuchungen manipulieren.«
»Das ist auch meine Auffassung.«
Als Maria aufstand, entdeckte sie, wie sehr diese unheimliche Geschichte sie bewegt hatte, denn ihre Beine drohten unter ihr nachzugeben, und sie mußte sich auf dem Schreibtisch abstützen. Während sie Szukalskis Gesicht genau musterte und feststellte, wie wenig sie ihn, selbst nach einem Jahr der Zusammenarbeit, kannte, versicherte sie ihm: »Natürlich werde ich Ihnen helfen.«
Doch Maria Duszynska hatte auch andere Sorgen. Dies war ihr letzter Abend mit Maximilian, der am folgenden Tag mit dem Zug abfahren wollte, und so hatte sie, als ihr Abendessen beendet war, die mißliche Lage verdrängt, in der Hans Keppler sich befand.
Und wie es so ist, wenn man versucht, einen Augenblick in die Länge zu ziehen und ihn bis in die Ewigkeit zu dehnen, war dieser Abend schneller verstrichen, als sie es wünschte, und hatte mit einer letzten, verzweifelten Umarmung unter ihrer warmen Daunendecke seinen Ausklang gefunden.
Alte Versprechungen waren erneuert worden, neue Schwüre bekräftigt, aber der Krieg mit seinen Unwägbarkeiten hatte Marias Hoffnungen schon einmal zunichte gemacht und ließ sie nun ruhelos in Max’ Armen liegen, dessen friedlichen Schlaf sie nicht zu teilen vermochte. Und während sie im Dunkeln an die Decke starrte und die gemeinsame Zeit an der Universität von Warschau vor ihrem geistigen Auge Revue passieren ließ, dachte sie selbstvergessen an die zarten Worte, die er ihr in dieser Nacht zugeflüstert hatte. Doch auch das ungelöste Problem Hans Kepplers fraß sich nun allmählich wieder in ihre Gedanken und nahm sie in Beschlag. Der bestürzende Bericht über die Konzentrationslager, die tragische Zerstörung seiner Illusionen, seine Scham vor sich selbst, sein Schwur, eher Selbstmord zu begehen als sich dem Alptraum noch einmal zu stellen. Und doch standen sie vor einer unlösbaren Aufgabe. Wie sollten sie die deut {109} schen Laboratorien
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