Nachtzug
während des Winters den Hof betreten oder verlassen, so daß sich die Krankheit nicht ausbreiten kann. Aber achten Sie darauf, daß Sie Ihre Soutane und den Inhalt Ihrer Tasche nachher gründlich reinigen.«
»Und was ist mit der übrigen Familie?«
Jan dachte an die bis auf die Knochen abgemagerten Kinder, ihre tiefliegenden Augen, den leeren Blick. »Wahrscheinlich werden sie auch erkranken, und wenn sie Glück haben, dann sterben sie daran.«
»Jan! Wie können Sie nur so etwas …?«
Szukalski blickte ein letztes Mal zu dem kleinen Häuschen, das friedlich vom gespenstischen Licht des Mondes beschienen wurde. Er dachte an Auschwitz.
Auf dem Rückweg erklärte er seinem Freund den Plan, den er und Maria für Keppler ausgeheckt hatten. Die Aussichten ließen den Priester fast überschwenglich werden, doch Jan beschwichtigte: »Ich habe diese Experimente vor zwei Jahren durchgeführt und die falsch positive Reaktion nur zufällig entdeckt. Ich weiß nicht genau, ob es mir gelingen wird, das Experiment noch einmal zu wiederholen. Und an Menschen habe ich gar keine Versuche gemacht. Ich kann nicht sagen, wie das Ergebnis in diesem Fall wäre.«
»Aber …, wenn Sie doch Erfolg haben, dann wird dieser falsche Impfstoff irgendwie bewirken, daß Kepplers Blut so aussieht, als habe er Fleckfieber, obwohl dies nicht der Fall ist, richtig?«
»Ich hoffe, daß eine Injektion des harmlosen Proteus-Bakteriums in Kepplers Blut nach einer Woche zu einer Reaktion führt, die den {120} Weil-Felix-Test in dem von den Deutschen kontrollierten Labor als Fleckfieber-positiv ausfallen läßt. Auf diese Weise werden es die Deutschen selbst sein, die Keppler von Amts wegen vom Dienst freistellen.«
»Aber das ist ja …«
»Doch jetzt weiß ich noch nicht einmal, ob uns Proteus-Bakterien zur Verfügung stehen, mit denen wir loslegen können. Alles hängt davon ab, ob wir sie aus dem Urin des Mannes anzüchten können.«
Szukalski brachte den Priester nach Hause und kehrte dann ins Krankenhaus zurück, das er durch einen Hintereingang betrat. In seinem Büro angekommen, zog er sich rasch um und legte die Kleider, die er auf dem Wilk-Hof getragen hatte, in einen Wäschesack, den er gründlich zuband und dann von einem diensthabenden Krankenpfleger abholen ließ. Diesen wies er an, den Inhalt des Sacks gründlich und von anderer Wäsche getrennt zu reinigen.
Dann trat Jan Szukalski wieder nach draußen in die Winternacht. Auf dem Heimweg blieb er kurz stehen und schaute die düster beleuchtete Straße entlang. Ein deutscher Soldat, der ein Gewehr über die Schulter gestreift hatte und sich in die kalten Hände blies, näherte sich ihm, aber dadurch, daß er berufsbedingt zu allen möglichen und unmöglichen Tageszeiten unterwegs war, hatte Szukalski sich in den letzten zwei Jahren an den Anblick patrouillierender Soldaten gewöhnt und schenkte ihnen kaum noch Beachtung. Er war eher aus einem anderen Grund stehengeblieben.
Die Priester hatte irgend etwas gesagt, woran er sich nicht mehr erinnern konnte. Aber er wußte, daß es etwas Wichtiges gewesen war, und deshalb überlegte er angestrengt. Doch alle seine Bemühungen, die Erinnerungslücke zu schließen, waren vergeblich.
Der deutsche Soldat erkannte den Direktor des Krankenhauses von Sofia und nickte ihm freundlich zu. Szukalski, der seinen Gruß kaum erwiderte, drehte sich langsam um und beschleunigte jetzt wieder seine Schritte. Er wollte noch nicht heimkehren.
Über eine Stunde streifte er durch die Straßen, doch er konnte sich einfach nicht erinnern. Schließlich blieb er vor einem der zwei Kinos in der Stadt stehen, und da die Sperrstunde noch nicht angebrochen war, war das Kino, in dem gerade das Programm lief, hell erleuchtet.
{121} Jan blickte auf die bunte Anzeigetafel:
Biała Sniegowica i Siedem Karzełkȯw.
Unwillkürlich mußte er lächeln. Es handelte sich um keinen neuen Film, denn er hatte ihn schon vor drei Jahren in Krakau gesehen, als er für die Vorstellung zwei Stunden im Regen angestanden hatte. Der Film wurde diese Woche wegen der Weihnachtsferien gezeigt, mit besonderer Rücksicht auf die Familien. Jan Szukalski nahm einen Zloty und kaufte eine Eintrittskarte.
Drinnen gab es erstaunlich wenige freie Plätze. Die Einwohner von Sofia suchten in diesem warmen, dunklen Kino ein oder zwei Stunden Zuflucht und Vergnügen.
Jan ließ sich in einen harten Holzstuhl im Parkett zurückfallen und starrte auf die Leinwand. Der Film war bereits zur Hälfte
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