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Nackt unter Wölfen

Nackt unter Wölfen

Titel: Nackt unter Wölfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Apitz
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den anderen Tag. Aber es war dennoch anders als sonst. –
    Die Gespräche, bisher umherschwirrend wie Fliegen, nahmen Richtung an, Zehntausende Gehirne formierten sich, Zehntausende Gedanken schwenkten ein und vereinigten sich zu einem Riesenzug, der mit den Fahnen der Hoffnungund Fahnen der Erwartung auf das Ende zumarschierte, das mit erschreckender Plötzlichkeit durch die zerrissene Wolkenwand brach!
    In allen Blocks gab es nur
ein
Gespräch: die Evakuierung! – So mancher, dem die Jahre der Haft die Sicht in die Zukunft genommen hatten, sah jetzt das Ende der Zeit –
seiner
Zeit. Was aber würde kommen? Der Tod oder die Freiheit? – Es gab keine klare Sicht. Die Ereignisse liefen nicht gleichmäßig ab, sie schlingerten, verwirrten und verfitzten sich. Tod oder Leben? Wer wusste es?
    In allen Blocks diskutierten sie darüber. Das Lager konnte in letzter, in allerletzter Minute noch zusammengeschossen werden. Sie hatten ja alles! Bomben, Giftgas, Flugzeuge! Ein Telefongespräch des Kommandanten mit dem nahe gelegenen Flugplatz … und in einer halben Stunde gab es kein Lager Buchenwald mehr, gab es nur noch eine rauchschwelende Öde. Aus der Traum dann, Kumpel! Und dabei hattest du zehn Jahre lang auf etwas ganz anderes gewartet! Keiner mochte sterben kurz vor dem Ende! – Verflucht! Vor
welchem
Ende? Wüsste man es nur! Auf einmal entdeckte so mancher, dass die Hornhaut, mit der sich die Brust in all den Jahren gepanzert hatte, dem, was da drinnen pochte, nicht mehr genug Widerstand entgegenzusetzen vermochte, und mancher entdeckte, dass er sich die Gewöhnung an den Tod, der all die Jahre hinter ihm gestanden hatte, wie ein Posten mit dem Gewehr, dass er sich die Gewöhnung nur eingebildet hatte, dass es ein Trugschluss gewesen war, erhaben über den Tod zu sein.
    Das unheimliche Gespenst kicherte bereits schadenfroh: Wer zuletzt lacht, lacht am besten!
    Was da drinnen gegen den Panzer pochte, sei nur nicht so erhaben, Kumpel … Jaja, du hast den Tod bisher mit dem Finger weggeschnippt. Vergiss nur nicht in deiner Erhabenheit, dass es ein ganz anderer Tod war, den du mit der Fingerspitze …es war
dein
Tod, und der gehörte ins Lager wie du selbst!
    Den
Tod aber, der jetzt da draußen kichert, mein Lieber,
den
schnippst du mir nicht mit dem Finger weg! Das ist der hinterhältigste, der verruchteste aller Tode! Das ist der Zyniker, der dir noch einen Blumenstrauß unter die Nase hält, wenn du deinen letzten Japser machst. Und was für Blumen: Häuser, Straßen, Menschen, ein Dorf, ein Stück Wald, eine Stadt, Autos, {Pferdewagen,} Radfahrer, {Ein sauberes, frisch gebügeltes Hemd, ein Glas Bier,} eine Frau, ein Bett, eine Stube mit richtigen Möbeln und Gardinen vor den Fenstern, kleine Kinder …
    Eine ganze, schöne Welt hält er dir unter die Nase: Schnuppre mal … Rede nicht, Kumpel! Da will keiner gern sterben, selbst wenn er früher mit einem Schnipser gestorben wäre.
    Und so ist es: Der Tod im Lager war dein Geselle. Der Tod vor dem Zaun ist dein Feind!
    Mit dem Gerücht zusammen hatte er sich ins Lager eingeschlichen und hockte überall dort, wo die Menschen in den Baracken zusammensaßen. Er hockte auch unter der kleinen Versammlung in der Fundamentgrube der Revierbaracke, war mit hinuntergestiegen durch den Schlupf und über die Steinbrocken gestolpert bis nach hinten, wo die Kerze brannte, und jeder, sei es Bogorski oder Bochow, Riomand oder Pribula, Kodiczek oder van Dalen, jeder wusste, dass er als schweigender Gast zugegen war.
    Bochow hatte seinen Situationsbericht gegeben. Verschleppung der zehn Mann aus der Effektenkammer, drohende Evakuierung, Vorrücken der Front auf Thüringen, Möglichkeit sich schnell entwickelnder Ereignisse. Riomand ergänzte den Bericht. Er hatte von der Besprechung beim Kommandanten erfahren, und es gab keine Zweifel darüber, um was es da oben gehen würde. Der ungestüme Pribula wollte die Evakuierung mit Gewalt verhindert wissen. Erforderte Alarmbereitschaft für die Widerstandsgruppen und die Freigabe der Waffen.
    »Bist du verrückt?«, rief ihm Bogorski auf Polnisch zu.
    3000 SS-Leute lagen in den Kasernen, das hatte Köhn von den Streifen des Sanitrupps, der fast täglich »draußen« war, mitgebracht. Kassel, wo die Front sich bewegte, war nah und noch viel zu weit. Jeder Tag konnte Neues bringen, jeder Tag war ein Gewinn. Weil es so war, weil Unsicherheit und Rettung wie unruhige Wellen noch schaukelten, konnte keine voreilige Entscheidung erzwungen

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