Nackt unter Wölfen
werden. Es blieb bei der alten Taktik des Abwartens und – falls die Evakuierungen einsetzten – des Verzögerns und Hinhaltens, um an Menschen zu retten, was zu retten möglich war. Doch sie wussten, dass die große Stunde reifte und der Kreis sich schloss. Was dann zu geschehen hatte … Bochow sagte es mit tiefem Ernst: »… was dann zu geschehen hat, Genossen, das entscheidet über Leben und Tod. Und wir müssen leben! – Ich kann nicht große Worte machen, aber heute möchte ich es einmal sagen: Was an Menschen den Stacheldraht der Konzentrationslager lebend hinter sich lässt, das wird der Vortrupp einer gerechteren Welt sein! Wir wissen nicht, was kommt. Gleich, wie die Welt nach dem aussehen mag, sie wird eine gerechtere sein, oder wir müssen verzweifeln an der Vernunft der Menschheit. Wir sind kein Dünger, wir sind keine Märtyrer, wir sind keine Opfer. Wir sind die Träger der höchsten Pflicht!« Als ob er sich des Pathos schäme, verstummte er schnell und zog sich in sich selbst zurück. Bogorskis Blick war warm auf ihn gerichtet. Karg und kühl, wie es seine Art war, fuhr Bochow fort:
»Wir haben noch etwas anderes zu besprechen, Genossen. Die Sache mit dem Kind. So geht es nicht weiter! – {Ich will Höfel keinen Vorwurf machen, aber} Das Kind wächst sich allmählich zu einer Gefahr aus. Kluttig ist hinter ihm her wie der Teufel. Er will zu uns gelangen. Selbstverständlich tappter im Dunkeln, denn wir haben mit dem Kind nichts zu tun. Wohl aber Höfel …«
Bochow blickte zu Bogorski, als erwarte er von ihm Widerspruch. Der aber schwieg. Da fuhr Bochow fort: »Bei Höfel und nur bei ihm kann die Bresche geschlagen werden. Ich weiß, Genossen, dass er tapfer durchhält, ich weiß es ganz sicher, das soll uns Ruhe geben. Aber Vertrauen ist gut, Vorsicht besser. Sie brauchen das Kind nur zu finden … wissen wir, was dann aus Höfels Kraft wird? Und nicht nur bei Höfel ist die Gefahr. Es sind bereits zu viele, die um das Kind wissen.
Das Kind muss darum von Zidkowski weg, und er darf nicht wissen, wohin es gebracht wird. Dann reißt die Kette ab. Wohin nun mit dem Kind? – Ich habe es mir überlegt. Wir bringen es hierher in die Grube.«
Der Vorschlag schien ungeheuerlich, und sie rumorten alle dagegen. Nur Bogorski schwieg. Bochow ließ sich nicht beirren.
»Ruhe, Genossen!« Mit knappen Worten setzte er auseinander, was er sich ausgedacht hatte. Dem Kind müsse in der Ecke der Grube ein weiches Nest eingerichtet werden.
Täglich einige Male müsste ein zuverlässiger Kumpel zu dem Kind gelangen – unter Anwendung aller Vorsichtsmaßregeln natürlich –, er müsste ihm Nahrung bringen. Das Kind sei es gewohnt, versteckt gehalten zu werden.
Van Dalen schüttelte skeptisch mit dem Kopf. »Du reißt die Kette nur ab, um sie an anderer Stelle neu zu knüpfen.« Bochow schwollen die Adern an den Schläfen.
»Was sonst?«, brauste er auf. »Sollen wir es totschlagen? Bringe einen besseren Vorschlag, wenn du ihn weißt.« Van Dalen hob die Schultern, auch die andern wussten keinen Rat. {Bogorski lächelte vor sich hin, er schien sich Bochows Gedanken zu ergeben. »Bei Zidkowski reißt die Kette? Stimmts? Na also! Zur neuen Kette führt kein Glied. Stimmts?«}
Sie schwiegen. Vielleicht war es so am besten. Auch Bochow mochte fühlen, dass der Ausweg nur ein unvollkommener war.
»Außer Pippig und Kropinski, die nicht mehr da sind, kennt Zidkowski nur noch Krämer, der um das Kind weiß. Also muss es Krämer sein, der das Kind von ihm holt.« Das aber wollte keiner zulassen. »Ausgerechnet Krämer«, protestierten sie alle.
»Ruhe, Genossen!«, fuhr Bochow unwirsch dazwischen. »Ich weiß, was ich will! Dass bei Krämer die Kette nicht geflickt werden kann, ist wohl selbstverständlich, falls … falls Zidkowski verraten sollte. – Ich glaube es nicht …«
»So ist es gut«, sagte Bogorski plötzlich, »wir werden machen weiches Bettchen für kleines Kind, und wird es bringen Krämer hierher. Charascho. Nicht viel diskutieren darüber, Genossen, wir nicht haben dazu Zeit. Wann Krämer holen das Kind?«
Mit seinem bestimmten Eintreten für Bochows Plan hatte Bogorski den allgemeinen Widerspruch abgeschnitten, und Bochow war dessen froh. Er antwortete: »Für heute ist es zu spät. Morgen bereite ich alles vor.«
Schwahl hatte Kluttig zu sich befohlen. Er befürchtete mit dem Lagerführer Zusammenstöße auf der Besprechung mit dem Stab, die unmittelbar bevorstand. Auf dem Tisch lag
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