Nackt unter Wölfen
Mit einem zweischneidigen Lächeln stellte sich dieser wieder hinter das Mikrophon. »Die bestellten Häftlinge am Schild 2 antreten. Alles andere abrücken!« Er schaltete das Mikrophon aus. Die bestellten Häftlinge waren die 46! –
Während sich die Massen der Häftlinge nach dem Lager zu in Bewegung setzten, die Blockführer durchs Tor verschwanden, raunte Reineboth Weisangk zu: »Von den Kerlen kommt keiner, die haben sich alle verkrochen.«
»Dös is a Schweinerei, is dös.«
Am Schlagbaum, der sich am Ende der langen Zufahrtsstraße zum Lager befand, hielten zwei überplante Lastautos. Eine karabinerbewaffnete Abteilung SS, von einem Hauptsturmführer befehligt, stand neben den Wagen. Der Posten am Schlagbaum ging auf und ab. Im kleinen Steingebäude, das als Unterkunft diente, saß Kluttig und wartete. –
In seinem Zimmer griff Reineboth zum Hörer, doch er legte ihn wieder auf die Gabel zurück. Finger davon, dachte er sich, mag es Kluttig mit dem Kommandanten selbst ausmachen. Die Situation war zu heikel, und es erschien Reineboth klüger, sich aus ihr herauszuhalten. Das Verschwinden der 46 kam einer Kampfansage gleich, die Reineboth unfassbar war, er schüttelte den Kopf. Die Lage begann sich zu komplizieren. Seit jener für Reineboth so aufschlussreichen Besprechung beim Kommandanten war der Jüngling vorsichtiger geworden. Das heutige Ereignis zeigte geheime Kräfte an, die er in seiner eitlen Überheblichkeit niemals hatte ernst nehmen wollen. Gewohnt, in den Häftlingen nur willenlose Objekte zu sehen, ging dem Jüngling jetzt eine Ahnung auf, dass es keineswegs so leicht war, einfach mit dem Maschinengewehr hineinzuhalten. Und außerdem … Reineboth machte ein paar langsame Schritte und blieb nachdenklich vor der Landkarte stehen. Die bunten Nadelköpfchen hüpften von Tag zu Tag näher ans Lager heran. Der Jüngling schürzte sorgenvoll die Lippen. Der Bart ist ab, Adele … Auf dem Schreibtisch stand ein Bild im Silberrahmen. Mit süffisant herabgezogenen Mundwinkeln betrachtete sich der Jüngling den dargestellten Mann, das Idol, mit in die Stirn gekämmter Haarsträhne … Plötzlich schnippte Reineboth gegen die bartgestützte Nase des Photos. »Adele«, sagte er zynisch{, sich im Augenblick jenem an Intelligenz maßlos überlegen fühlend}.
Weisangk hatte dem Kommandanten das Verschwinden der 46 gemeldet. Schwahl war aufgebracht. Er stützte dieFäuste in die Hüften und stöhnte. »Da haben wir es! Dieser Mensch bringt mir nur Unruhe ins Lager.«
Schwahl konnte es sich nicht leisten, eine langwierige Suchaktion durchführen zu lassen. Auf dem Weimarer Bahnhof wartete bereits ein Güterzug auf die ersten Transporte.
Nach dem Ausbruch seines Unmuts war Schwahl merkwürdig schweigsam geworden. Gedankenvoll ging er im Zimmer umher. Plötzlich blieb er vor Weisangk stehen, der in einem Sessel am Konferenztisch saß und seinen Herrn mit sorgenvollen Blicken verfolgte.
»Kommt nach uns der Bolschewismus?«, fragte Schwahl überraschend. Weisangk blinzelte und schluckte wie bei einer Examensfrage.
»I moan, was soll sunst kemma?«
Schwahl machte wieder einige gepeinigte Schritte und fuhr mit ausgestrecktem Finger zu dem ratlosen Weisangk herum. »Eines ist sicher! Auf der Konferenz der alliierten Außenminister 1943 in Moskau wurde die Aburteilung der Kriegsverbrecher beschlossen.« Schwahl tippte sich vielsagend gegen die Brust.
»Dös is a Ding …«, platzte Weisangk überrascht heraus.
»So einfach, wie es sich Kluttig machen will, ist es eben nicht, mein Lieber.«
Schwahl stöhnte gequält auf. »Geschossen ist schnell. – Vielleicht habe ich Glück und komme durch. Vielleicht lasse ich mir einen Bart wachsen. Vielleicht wird aus mir ein Waldarbeiter, irgendwo in Bayern …«
»Dös is guat«, pflichtete Weisangk eifrig bei.
»Aber wenn sie mich erwischen … Wenn sie mich erwischen … Ich werde für sie immer der Kommandant des Konzentrationslagers Buchenwald bleiben. Und wenn sie hier ein Leichenfeld vorfinden …?« Schwahl wedelte mit den Fingern. »Nee, nee, mein Lieber …«
Weisangk versuchte, Schwahls düstere Gedanken in ihrerFolgerichtigkeit weiterzudenken, aber das gelang ihm nicht. »Du bist a G’scheiter. Was is da zu machen?«
Nervös strich Schwahl mit der Hand durch die Luft.
»Weg mit den 46! Damit schlagen wir dem Widerstand im Lager die Köpfe ab. Alles andere aber marschiert. Was unterwegs kaputtgeht, soll mir egal sein. Was ein Alibi ist, weiß ich als
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