Nackt unter Wölfen
Bogorski grüßte sie mit einem stillen letzten Blick.
In militärischer Ordnung, mit dem typischen, ein wenig schaukelnden Schritt marschierten die 800 den Appellplatz hinauf. Aus den Zwischengassen der Blocks blickten die Häftlinge ihnen nach. Die Flügel des schmiedeeisernen Tores öffneten sich. Der Zug musste anhalten und marschierte auf der Stelle, dann bewegte er sich wieder vorwärts, bis der letzte Mann durchs Tor marschiert war. Es schloss sich.
Krämer, die Mütze noch in der Hand, setzte sie auf und ging langsam über den wieder einsam gewordenen Platz ins Lager zurück. –
Der zweite Transport wurde nicht mehr angefordert, und der Tag ging in sonderbarer Ereignislosigkeit zu Ende.
In den folgenden Tagen geriet der Evakuierungsplan immer mehr in Unordnung. Eine vollständige Räumung des Lagers, wie sie vom Kommandanten vorgesehen, war nicht mehr möglich. Oft retteten die häufiger werdenden Alarme diezum Abmarsch befohlenen Transporte über Stunden hinweg. Oftmals kam es gar nicht mehr zur Zusammenstellung von Transporten. In den Pausen zwischen den Alarmen wurden die Häftlinge wahllos und regellos aus den Blocks hinaus- und auf dem Appellplatz zusammengetrieben und, wenn genug beisammen waren, zum Tor hinausgejagt. Trotz der Taktik des Verzögerns, trotz der oft rettenden Fliegeralarme, die die Evakuierungen {ins Stocken brachten}, waren es noch Zehntausende, die in diesen Tagen zusammengetrieben und aus dem Lager gejagt werden konnten. Von 50 000 blieben zuletzt noch 21 000 Menschen übrig. Ordnung und Kontrolle gab es nicht mehr. Größer mit jedem Tag wurde das Gewirr der Auflösung. Verbissener kämpften die übriggebliebenen Häftlinge gegen ihre Austreibung. Nachrichten, unprüfbare, versetzten sie in einen Zustand dauernder Erregung. Bald hieß es, dass die Amerikaner Kahla südöstlich von Weimar erreicht hätten, bald sollten nordöstlich von Erfurt amerikanische Panzerspitzen gesehen worden sein. Andere Nachrichten wollten wissen, dass die Amerikaner schon in Buttstädt eingedrungen wären. In das Wirrwarr der unkontrollierbaren Nachrichten und Parolen verfitzte sich das Gerücht, dass die Evakuierungen eingestellt würden und der Kommandant das Lager dem Amerikaner übergeben wolle.
Eines frühen Morgens erschienen, ohne dass es Alarm gegeben hatte, zwei amerikanische Jäger über dem Lager. Die Häftlinge stürzten aus den Blocks, schrien: »Sie sind da, sie sind da!«
Aber die Flugzeuge, nachdem sie einige Male über dem Gelände gekreuzt hatten, flogen wieder ab.
Manchmal war es während der Alarme totenstill, manchmal wieder, kaum dass sich die Sirene ausgeschrien hatte, zitterten die dünnen Wände der Baracken im Lärm des Kampfes da draußen, als fänden die Bombeneinschläge und Artillerieduellein unmittelbarer Nähe statt. Die Häftlinge fieberten der Befreiung entgegen. Der Krieg schickte seine Wehen über das Lager und schüttelte es. Und noch immer vergingen die Tage. Die hin und her getriebene Masse glich einem Riesenleib, der sich, selbst aus tausend Wunden blutend, gegen die mörderischen Pranken eines angeschlagenen Raubtieres zur Wehr setzt. Inmitten dieses verzweifelten Kampfes standen Krämer, die Blockältesten und der Lagerschutz. –
Das Getümmel einer der Austreibungen benutzend, verbargen sich Bochow, Pribula und einige Mitglieder der polnischen Widerstandsgruppen im Operationsraum des Häftlingsreviers. Damals, als der Kommandant auf Drängen Kluttigs nach dem geheimen Radiosender hatte suchen lassen, musste das tatsächlich existierende Gerät vernichtet werden. Jetzt hatten einige polnische Häftlinge aus den sorgfältig aufbewahrten Einzelteilen den Apparat neu zusammengesetzt. Im Operationsraum befand sich noch die am Blitzableiter gut getarnte Antenne für den Sender.
Während durch das Lager die Furie der Austreibung raste, gaben die Mutigen Hilferufe durch das primitive Gerät.
»SOS! SOS! Hier Lager Buchenwald! Hier Lager Buchenwald! Hilfe dringend notwendig! SOS! Hier Lager Buchenwald!« Würden die Rufe aufgefangen werden?
In der gleichen Nacht noch riefen die Genossen des ILK erneut die Führer der Widerstandsgruppen zusammen. Wieder trafen sie sich in einem der leer gewordenen Blocks. Durch den Verlust der sowjetischen Gruppen musste eine Umstellung vorgenommen werden. Die Gruppen der Deutschen, Franzosen, Tschechen und Holländer, die für den Kommandanturbereich eingeteilt waren, mussten die Aufgabe der sowjetischen Gruppen
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