Nadelstiche
Kroatisch zu verstehen, war Jake klar, was er meinte.
»Hätte das ausgereicht, um sie zu töten?«, fragte der Detective. »Ist sie an einem Stromschlag gestorben?«
»Nein, dann müsste es irgendwo am Körper eine Austrittsstelle mit einer Verbrennung geben. Zeit, dass wir hineinschauen.« Sie arbeiteten mit wortloser Effizienz, machten einen Y-förmigen Schnitt von beiden Schultern zum unteren Teil des Brustbeins und weiter abwärts bis zum Schambein. Mit einer einzigen fließenden Bewegung, die ein schwaches reißendes Geräusch machte, zog Jake die Haut vom Brustkorb zurück und legte Rippen und Bauchraum frei.
Pasquarelli verzog das Gesicht und sah weg.
»Na, na, Detective.« Jake stupste den Polizisten mit dem Ellbogen an. »Du hast die Prozedur doch schon zigmal gesehen.«
»Stimmt. Aber das heißt nicht, dass sie mir gefällt. Manche Kollegen, die auch schon oft dabei waren, müssen sich noch jedes Mal übergeben. Ich hab einen Magen wie aus Gusseisen. Mir machen die Geräusche mehr zu schaffen als das Blut und der Geruch, vor allem, wenn ihr dann noch die Säge anwerft.« Der Detective griff in seine Tasche und holte zwei winzige Ohrstöpsel hervor. »Okay, ich bin bereit.«
Jake durchtrennte mit der Säge die Rippen nahe am Brustbein und legte durch Entfernen der Brustplatte Herz und Lunge frei. »Das Herz wiegt fünfhundertfünfzig Gramm, doppelt so groß, wie es sein sollte«, kommentierte er, während er arbeitete. »Es hat verengte Arterien, eine vergrößerte linke Herzkammer, was auf Bluthochdruck hindeutet. Beide Lungenflügel sind mit einer schaumigen Flüssigkeit gefüllt.«
Jake richtete sich auf. »Todesursache: hypertensive und arteriosklerotische Herzerkrankung mit kongestiver Herzinsuffizienz in Verbindung mit einer tödlichen Herzarrhythmie, während der Körper festgehalten wurde.«
»Geht’s auch verständlicher?«, fragte Pasquarelli.
»Herzversagen, ausgelöst durch Folter.«
9
Jake trat durch die Tür seines Stadthauses und rutschte auf einem Stapel Post aus, der Stunden zuvor durch den Briefschlitz gesteckt worden und auf dem Parkettboden gelandet war. Er schaufelte ihn zusammen und warf ihn auf einen Empire-Tisch, dessen Schönheit von einem Berg aus ungeöffneten Rechnungen und unbeantworteten Einladungen inzwischen verschüttet war.
Als Jake dieses heruntergekommene Brownstone-Haus Mitte der Achtzigerjahre gekauft hatte, war die Busfahrt von seinem Büro auf der 13. Straße bis hierher nördlich der 96. Straße das reinste Überlebenstraining im Urbanen Dschungel gewesen. Er hatte ständig auf der Hut sein müssen vor Jugendbanden, die den Bus enterten, um Fahrgäste zu beklauen, vor torkelnden Bettlern, die einem ihre Pappbecher mit ein paar klimpernden Münzen unter die Nase hielten, und den vielen Betrunkenen und Verrückten. Lesen oder auch nur seinen Gedanken nachhängen geschah auf eigene Gefahr.
Heutzutage war die Fahrt im sauberen klimatisierten Bus so ereignislos, dass man in Zen-artige Trance sinken konnte und dennoch unversehrt an sein Ziel gelangte. Und in seinem Viertel, das einst von Dealern und Zuhältern bevölkert war, sah man nun an jeder Ecke Starbucks-Cafés und Modeläden – seiner Ansicht nach nicht unbedingt eine Verbesserung.
Alles in allem war der Nachhauseweg weniger stressig, aber auch weniger aufregend als früher. Und seit seiner Scheidung vor über einem Jahr auch weniger regelmäßig. Dennoch, das fünfgeschossige Haus, das bis unters Dach mit forensischen Utensilien gefüllt, wahllos möbliert und nur teilweise renoviert war, bot ihm einen Zufluchtsort, wo er seine Wunden lecken und Kraft für eine weitere Schlacht sammeln konnte. Und heute, nach den bestürzenden Ergebnissen der Hogaarth-Obduktion und dem nervenaufreibenden Gespräch mit Pederson, dem er erklären musste, wieso sie dem Vampir noch immer keinen Schritt näher gekommen waren, lechzte Jake geradezu nach dem erholsamen Frieden in seinen vier Wänden.
»Deine Freundin hat mich heute angerufen.«
Die Stimme – tief, belustigt, respektlos – ertönte von irgendwo aus dem finsteren Wohnzimmer.
»Wieso sitzt du im Dunkeln? Und sie ist nicht meine Freundin.«
»Gefährtin, Geliebte, Partnerin – wie würdest du es denn politisch korrekt ausdrücken?«
Was war Manny für ihn? Im Augenblick waren Nervensäge oder Stachel im Fleische die treffendsten Beschreibungen, die ihm einfielen. Jake ging auf den Klang der Stimme seines Bruders Sam zu und lief prompt gegen eine
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